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Fabian setzte sich auf sein Bett und seufzte. Es würde die letzte
Nacht in seinem vertrauten Zimmer werden, die letzte Nacht in seinem großen
weichen Bett. Danach warteten acht lange Tage und sieben unbequeme Nächte
in einem Ferienlager auf ihn.
Er nahm sich seinen Rucksack, öffnete den langen Reißverschluss
an seinem oberen Ende und legte den Rucksack vor sich auf das Bett. Um
ihn herum waren die Sachen aufgebaut, die er einpacken sollte. Allem voran
ein Stapel frischer Unterhosen, auf die hatte seine Mutter natürlich
besonderen Wert gelegt. Er könnte in der Wildnis verschollen gehen,
von einem Wasserfall mitgerissen oder von einer Schlange gebissen werden,
aber Hauptsache war, er hatte dabei eine saubere Unterhose an. So waren
Mütter eben. Männer würden eher daran denken, Angelhaken
und Nylonschnur einzupacken, um sich zur Not von der Wildnis zu ernähren.

Fabian zählte flüchtig durch den Stapel und kam auf acht Unterhosen.
Seine Mutter hatte also gedacht: Acht Tage = acht Unterhosen. Aber dabei
hatte sie übersehen, dass Fabian ja in einer Unterhose steckend anreiste,
und selbst wenn er wirklich jeden Morgen eine frische anzog, bräuchte
er nur sieben.
Kopfschüttelnd zog Fabian den Handzettel vom Feriencamp aus der Hosentasche
und faltete ihn auseinander. Mit diesem Zettel winkend war seine Mutter
vor zwei Wochen in sein Zimmer gekommen und hatte so getan, als wäre
es eine besonders großzügige Überraschung für ihn.
"Du bist doch immer so wild auf's Campen", hatte sie gesagt,
und: "dies ist ein ganz aus-ge-zeich-netes Feriencamp, das kostet
richtig Geld!" Natürlich hatte sie ihn vorher gar nicht gefragt,
ob er in ein Ferienlager wollte. Und auch als sie ihm den Handzettel unter
die Nase hielt, fragte sie nur beiläufig: "Das ist doch okay,
oder?" Sie fragte Fabian immer erst hinterher, wenn alles schon bestellt,
vereinbart oder gekauft war, so dass er kaum noch nein sagen konnte. Und
wenn er sich tatsächlich mal weigerte, gab es natürlich riesigen
Streit.
Der wirkliche Grund für diese "Überraschung" war die
Dienstreise, die seine Mutter in der Zwischenzeit antreten würde.
Fünf Tage auf Seminarreise mit ihrem Chef. Und vier Nächte im
Hotel mit ihrem Chef. Fabian kannte diesen Chef, er war schon zweimal
bei ihnen zum Abendessen gewesen. Ein ekelhafter Typ. Immer im gebügelten
Anzug mit Seidenkrawatte. Und er roch nach Unmengen von Rasierwasser,
dass einem schwindlig wurde, wenn man neben ihm saß.
"Feriencamp Wildwasser" stand auf dem Handzettel, und darunter
eine wirre Zusammenstellung von Clipart-Zeichnungen aus dem Computer:
Hohe Berge, ebenso hohe Nadelbäume, ein Wasserfall, ein Kanu, ein
Haufen Tiere in unterschiedlichen Zeichenstilen, so dass Fabian bei manchen
gar nicht wusste, was für ein Tier damit gemeint war, und über
allem eine strahlende Sonne mit lachendem Mondgesicht.
"Liebe Wildwasser-Fahrer,
wir laden Euch ein zu einer Reise voller Abenteuer. Kommt in unser Blockhütten-Camp
und erlebt eine Zeit fernab von allem Großstadtlärm, dort wo
sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Kommt zu uns ans Lagerfeuer unter
dem klaren Sternenhimmel..." und so weiter, und so weiter.
Am Ende des Zettels war eine kleine Checkliste für die Dinge, die
man mitbringen sollte, und die Fabian jetzt durchging. "Festes Schuhwerk"
stand da. Für Fabians Geschmack waren seine Turnschuhe fest genug,
um sich durch die Wildnis zu schlagen, und für ihn stand bereits
fest, dass er nicht nur in diesen Turnschuhen anreisen, sondern sie auch
die ganzen acht Tage lang tragen würde. Aber für Erwachsene
bedeutete "festes Schuhwerk" eine bestimmte Art halbhoher Wanderschuhe
aus braunem Leder - und genau solche lagen jetzt nagelneu und unbenutzt
vor Fabians Knien auf seinem Bett. Fabian nickte und hakte das Kästchen
neben "Festes Schuhwerk" mit einem Bleistiftstummel ab.
Es folgten: "Socken", "Unterwäsche" (reichlich,
dachte sich Fabian dazu), "zwei bis drei Hosen", "Waschzeug",
"Zahnbürste", "Badehose", "Sporthose"
und "evtl. Trainingsjacke". T-Shirts würden im Camp verteilt
werden, die bräuchte man nicht mitzunehmen. Als letzter Checkpunkt
auf der Liste stand: "und jede Menge gute Laune". Fabian verzog
den Mund. An diesem Punkt würde er bestimmt keinen Haken machen.
Das klang so, als müsse man im Camp alle seine gute Laune abliefern.
Er stopfte alles in seinen Rucksack - den Stapel Unterhosen ganz nach
unten.
Das absolut Lebenswichtige stand natürlich nicht auf der Liste. Da
gab es nur die Bemerkung, bitte keine Handytelefone, Taschencomputer oder
Gameboys mitzunehmen, da von denen immer wieder welche verloren oder gestohlen
würden, und es dann nur Ärger gäbe. Taschenmesser und Feuerzeuge
wären sogar strikt untersagt. Aber Fabian packte das ein, ohne das
er niemals acht Tage und sieben Nächte fernab von zu Hause überleben
könnte: Seinen kleinen, transportablen CD-Player mitsamt Ohrhörern
und voll geladenen Akkus.
Die Auswahl der CDs dazu fiel schwer. Sein absolutes Lieblingsalbum musste
mit. Seine Hülle war schon ziemlich verkratzt, und das Booklet fiel
fast auseinander. Für eine Art Funktionsüberprüfung legte
Fabian die CD in seinen kleinen Player und steckte sich die schwarzen
Hörstöpsel in die Ohren. Er lehnte sich zurück an die Wand.
Leise begann ein etwas bedrohliches, lauerndes Gitarrensolo, bis dann
plötzlich die Band mit schwerem Rhythmus und schleppendem Schlagzeug
einfiel. Seine Freunde belächelten ihn öfter, weil er sich diese
"Luftgitarren-Musik" anhörte. Das war Rockmusik, zu der
man in der Luft herumfuchtelte, als hätte man eine E-Gitarre in den
Händen. Fabian hasste HipHop und ähnliches Zeug. Schon die Tatsache,
dass diese Musik oft von DJs gemacht wurde, war für ihn Beweis, dass
dies gar nichts Künstlerisches war.
Fabian zuckte zusammen, als er bemerkte, dass da jemand in der Tür
zu seinem Zimmer stand. Seine Mutter war es nicht, die hätte er schon
vorher bemerkt an dem Dunstschleier aus Zigarettenrauch, der sie immer
umgab. Es war Niklas, sein Freund aus der Nachbarschaft.
Fabian stellte die Musik ab. "Hi", sagte er.
"Hi", sagte Niklas und schloss hinter sich die Tür.
"Ich bin beim Packen", erklärte Fabian und richtete den
Rucksack auf seinem Bett auf.
"Seh ich", sagte Niklas, ging halb um das Bett herum und ließ
sich in den alten Sessel fallen, den Fabian von der letzten Wohnzimmereinrichtung
zurück behalten hatte. Aus lauter Gewohnheit griff er sich Fabians
E-Gitarre und strich leise über die Saiten. Er wurde sonst nicht
müde, zu beteuern, dass er Gitarren für völlig bekloppt
und unnötig kompliziert zu spielen hielt, und dass heute kein Rockstar
mehr Gitarre spielen würde. Sondern Keyboard. Trotzdem konnte er
die Finger von Fabians E-Gitarre nicht lassen.
Im Gegenzug behauptete Fabian üblicherweise, so wie Niklas Klavier
spielte, würde er nie Rockstar werden sondern Barpianist in irgendeiner
Hotelbar. Was Musik betraf, waren sich die beiden nie einig.
Niklas fragte: "Freust du dich auf die Fahrt?"
"Nein", brummte Fabian lustlos.
"Ich war noch nie im Feriencamp", sagte Niklas und versuchte,
neidisch zu wirken.
"Freu dich", entgegnete Fabian nur. Er durchsuchte das Regal
über seinem Bett nach überlebenswichtiger Musik für die
Wildnis.
"Wir fahren dieses Jahr gar nicht richtig weg", erzählte
Niklas, ohne seinen Blick von den Gitarrensaiten zu wenden. "Die
Reparatur von unserem Auto war so teuer. Höchstens fahren wir mal
für zwei Tage in den Vergnügungspark."
"Ist doch auch schon was", sagte Fabian. Wie gerne hätte
er das blöde Feriencamp eingetauscht gegen ein Wochenende im Vergnügungspark!
"Ja, aber nur zwei Tage! Das ist doch kein Urlaub! Ich meine, eine
richtige Urlaubsreise geht mindestens bis ans Meer zum Baden, und dann
mindestens eine Woche und am besten zwei. So wie unser Urlaub letztes
Jahr."
Fabian schaute hinüber zu seinem blonden Freund. Er wusste noch gut,
wie braungebrannt Niklas vom Badeurlaub gekommen war. Seine Sommersprossen
waren kaum noch zu sehen gewesen, nur seine Nase hatte ausgesehen, als
würde immer noch etwas Sand auf ihr kleben. Es hatte bis zum Winteranfang
gedauert, bis Niklas wieder normal erblasst war.
Fabian sagte: "Aber ich kann mir Besseres vorstellen als ein Ferienlager.
Es geht doch nur darum, dass meine Mutter auf Dienstreise geht, und sie
mich nicht allein zu Hause lässt."
"Schade", sagte Niklas und musste kichern. "Aber warum
kommst du nicht einfach zu uns, so lange deine Mutter weg ist?"
"Haben wir schon zu oft gemacht, das kann man euch nicht mehr zumuten,
sagt sie." Fabian seufzte. Fünf Tage und vier Nächte bei
Niklas wären einfach zu schön gewesen. "Außerdem
hat sie das Camp bereits bezahlt. Und da kann man nicht mehr mit ihr reden."
Mit dem Stapel CDs in der Hand setzte er sich wieder auf sein Bett. "Wenn
es nach mir ginge, würde ich einfach zu Walter und Jeremy fahren."
Walter war der Ex-Freund seiner Mutter. Und von Jeremy behauptete er felsenfest,
dass er sein kleiner Bruder sei, wenn nur seine Mutter und Walter nicht
einfach vergessen hätten zu heiraten. Die beiden wohnten nun ziemlich
weit weg in einer anderen Stadt. Fabian schrieb öfter Briefe an Jeremy,
und als Antwort waren bislang nur mickrige zwei Postkarten zurück
gekommen. Er sagte sich, Jungs in Jeremys Alter wüssten noch nicht,
was sie schreiben sollten.
Die beiden Postkarten hingen an der Wand über Fabians Schreibtisch.
Niklas spielte den einzigen Gitarrengriff, den er kannte - G-Dur. Zum
Thema Jeremy sagte er lieber nichts. Er hatte den dunkelhaarigen Jungen
auch immer für Fabians richtigen Bruder gehalten, und die Art und
Weise wie Fabian den Kleinen immer bevorzugt hatte, war ihm auf den Senkel
gegangen. Jeremy hier, Jeremy da. Fabian mogelte beim Spielen, damit Jeremy
gewann. Wenn Jeremy sich wehtat, war auch Fabian gleich weg, um Jeremy
nach Hause zu bringen. Wenn Jeremy kein Fußball spielen mochte,
spielte Fabian auch nicht mit. Aber als Walter mit Jeremy weggezogen war,
und Fabian tagelang heulte, tat es auch Niklas leid. So nervig seine eigene
kleine Schwester auch sein mochte, die Vorstellung, seine Familie könnte
eines Tages auseinander gerissen werden, fand Niklas furchtbar.
"Welche würdest du mitnehmen?" fragte Fabian und hielt
zwei CDs hoch.
Niklas beugte sich vor, ignorierte die CDs in Fabians Händen und
durchsuchte den Stapel auf dem Bett. Schließlich zog er eine Filmmusik
hervor, die Fabian garantiert nicht besonders leiden konnte, und sagte:
"Die hier!"
Fabian stöhnte und sah zur Decke. "Du bist eine große
Hilfe!"
Niklas lächelte matt und fragte: "Was ist, kommst du noch mit
raus, Fahrradfahren, oder willst du den ganzen Abend lang packen?"
Fabian zuckte die Schultern und legte die CDs beiseite. "Okay, ich
komme!"
Als Niklas bereits zur Zimmertür hinausgegangen war, beugte sich
Fabian noch einmal über sein Bett. Etwas durfte er auf keinen Fall
vergessen einzupacken, aber es war nicht nötig, dass Niklas es mitbekam.
Es war James, der Butler. Eine kleine Stofffigur, die einen Pinguin darstellte.
Die Figur hatte ihm Jeremy einmal geschenkt, und für Fabian war sie
nun sein Glücksbringer. Auch wenn dieser Glücksbringer nicht
hatte verhindern können, dass Fabian bei einem Sturz beim Eislaufen
ein Stück vom Zahn abgebrochen war. Der kleine Stoffpinguin lag immer
gleich neben Fabians Kopfkissen. Schnell ließ ihn Fabian im Rucksack
verschwinden.
So würde er die Wildnis schon irgendwie überleben.
Der Bus sollte an dem kleinen Parkplatz vor der Kirche halten, um die
Kinder aufzunehmen, die in der kleinen Stadt von Fabian und Niklas wohnten.
Und das sollte er natürlich in aller Herrgottsfrühe tun.
Fabian gähnte fast ununterbrochen, als seine Mutter ihn zu diesem
Parkplatz fuhr. Warum mussten diese Busse bloß immer so früh
fahren? Die Tour ins Camp würde gar nicht so lange dauern, dass es
irgendeinen Grund dafür gäbe. Obendrein hatte Fabian in der
Nacht nicht gut schlafen können.
Es wurde wirklich höchste Zeit, dass er Rockmusiker wurde. Diese
coolen Jungs schliefen immer bis Mittags, und jeder, der sie stören
wollte, wurde von Bodyguards abgewimmelt.
Drei Mädchen mit ihren Eltern standen bereits da und warteten. Es
war niemand dabei, den Fabian kannte.
Etwa fünf Minuten später kam ein Reisebus um die Ecke und hielt
zischend auf dem Parkplatz.
Alle Eltern einschließlich Fabians Mutter machten die gleiche Abschiedszeremonie:
Ein letztes Mal wurden die Kinder umarmt und gedrückt, dann an den
Schultern gehalten mit einem festen, ermahnenden Blick: "Pass auf
dich auf! Komm gesund wieder!" Dann ein kurzes Streicheln der Wange
und ein leises "Ich hab dich lieb", und dann wurden die Kinder
ihrem Schicksal überlassen, das heißt in Richtung Bustür
geschoben. Ein letztes Winken, und zischend klappte diese Bustür
hinter ihnen zu.
Der Bus war bereits voller Kinder aus der großen Stadt, in der er
losgefahren war. Vorne saßen Mädchen, die sich anscheinend
bereits kannten, und die hin und wieder ein Liedchen anstimmten, das meist
nach einer halben Strophe mangels Text wieder verstummte. Ganz hinten
im Bus saßen Jungs, die sich anscheinend auch schon kannten. Sie
riefen laut durcheinander und schubsten sich gegenseitig von den Sitzen.
Die Mitte vom Bus war neutrale Zone. Hier waren noch die meisten freien
Plätze, und es war entsprechend ruhig.
"Hinsetzen!" rief der Fahrer mißgelaunt und beobachtete
die ganze Bande in einem Spiegel.
Fabian war drauf und dran sich neben einen recht dicken Jungen zu setzen,
der in die Musik aus seinem Kopfhörer vertieft war, als er einen
auffälligen rotblonden Haarschopf wahrnahm. Dieser Haarschopf gehörte
zu einem Jungen, der auf der Vorderkante seines Platzes saß und
mit der Nase an der Fensterscheibe klebend nach draußen sah. Und
dieser Junge war wohl etwa einen halben Kopf kleiner als Fabian - also
ungefähr so wie Jeremy.
Ohne sich weiter umzusehen, ließ sich Fabian in den Sitz neben dem
rotblonden Jungen fallen.
Der Bus setzte sich in Bewegung. Die Eltern draußen winkten.
Zaghaft winkte auch Fabian.
Da bemerkte ihn sein rotblonder Nachbar und sah sich um. Er hatte Sommersprossen
auf seiner Nase und seinen Wangen, und sie waren viel zahlreicher und
viel deutlicher zu sehen als die von Niklas. Denn er hatte eine helle,
rosige Haut, die ziemlich empfindlich aussah. In diesem Kontrast wirkten
auch seine Lippen roter als die anderer Jungs.
"Hi", sagte Fabian.

Der rotblonde Junge sah kurz und wie es schien erstaunt an seinem dünnen
Sitznachbarn mit der dunkelbraunen Rockmusiker-Mähne hoch und sagte
dann mit einem etwas belegten Stimmchen: "Hi!" Dann drehte er
sich wieder um und klebte mit der Nase wieder an der Fensterscheibe.
Der Bus schob sich behäbig durch die schmalen Straßen der kleinen
Stadt und ließ schließlich die Wohnhäuser und die Gartenzäune
und die geparkten Autos hinter sich. Fabian hatte ein komisches Gefühl
im Bauch. Acht lange Tage würde es dauern, bis er das alles wiedersehen
konnte.
Seinen kleinen Nachbarn schien selbst die flache Landschaft draußen
zu faszinieren. Jedenfalls saß er immer noch auf der Vorderkante
seines Sitzes, eine Hand auf der Fensterscheibe, die andere an einem Griffbügel,
und starrte an der Rückenlehne seines Vordermannes vorbei in Fahrtrichtung.
Fabian beobachtete ihn eine Weile, zumal er sich gewissermaßen ins
Bild drängte. Komisch, so wie er sich an den Griffbügel klammerte,
wirkte es fast, als bräuchte er die Fensterscheibe und den Bügel,
um sich verzweifelt festzuhalten. Es war gut möglich, dass dieser
Junge das erste Mal in einem Reisebus saß. Erst nach und nach schien
er sich etwas zu entspannen, und gelegentlich lehnte er sich sogar zurück
in seinen Sitz, begleitet von einem tiefen Seufzer.
Fabian wurde den Eindruck nicht los, sein rotblonder Sitznachbar war irgendwie
bedrückt.
Die lauten Jungs aus dem hinteren Teil des Busses schienen eine Art Anführer
zu haben. Jedenfalls riefen sie immer wieder einen Namen: Angelo!
"Angelo, schau mal!" - "Angelo, hier!" - "Ey,
Angelo! Angelo!"
Fabian drehte sich um und äugte nach hinten. Eine kleine Gruppe von
drei oder vier Jungs rannte da von einer Ecke in die andere. Einer hatte
eine rote Baseballmütze verkehrt herum auf, das schien Angelo zu
sein. Die anderen machten alles das, was er tat. Reine Mitläufer.
Wenn Angelo auf einen Sitz kletterte, drängten die anderen hinterher.
Wenn Angelo an der Heckscheibe klebte und Grimassen zog, kamen die anderen
dazu und machten auch Grimassen.
"Hier, Angelo, kuck dir das mal an!"
Fabian ließ sich in seinen Sitz zurücksinken und murmelte:
"Was für Deppen!"
Da merkte er, dass ihn sein rotblonder Nachbar ansah. Türkisgrüne
Augen glänzten ihn an. Und ein schüchternes Lachen kam über
seine Lippen. 'Deppen', das schien ihm zu gefallen.
"Kennst du die Typen?" fragte Fabian und deutete mit dem Daumen
nach hinten.
Die türkisgrünen Augen gingen ein wenig hin und her zwischen
Fabians Gesicht und seinem Daumen, dann wurde der rotblonde Kopf andeutungsweise
geschüttelt. "Nicht besonders", sagte der Junge schließlich.
"Ist dieser Angelo auf deiner Schule?" wollte Fabian wissen.
Der Junge schaute noch immer unsicher. "Ja", sagte er, fast
tonlos.
"Warum finden die den alle so toll?" fragte Fabian.
Sein rotblonder Nachbar hob die Schultern. "Ist eben so", sagte
er. Und weil er wohl nichts weiter zu sagen wusste, schaute er wieder
hinaus in die flache Landschaft, die da an der Fernstraße vorbeizog.
Dabei spielte er am Reißverschluss eines bunten Nylonbeutels herum,
der mit einem elastischen Gurt vor seinen Bauch geschnallt war.
Fabian sank tiefer in seinen Sitz. Wenn er bis auf Augenhöhe zu seinem
Sitznachbarn hinunterrutschte, stießen seine Knie gegen die Lehne
vor ihm. Das Ferienlager war für Kinder zwischen 10 und 14 Jahren.
Fabian würde man wohl schon wegen seiner Länge zu den Älteren
zählen, zu den "Großen". Den rotblonden Jungen an
seiner Seite dagegen wohl zu den Kleineren.
"Kennst du sonst jemanden, der hier mitfährt?" wollte Fabian
nun wissen.
Der Junge neben ihm wandte kurz den Kopf und stellte überrascht fest,
dass Fabian jetzt mit ihm auf Augenhöhe saß. Einen Augenblick
musterte er Fabians ausgestreckten, dünnen Körper, dessen schlappe
Haltung der Grund für den plötzlichen Verlust an Höhe war.
Dann hob er wieder die Schultern und sagte: "Nicht besonders."
Fabian steckte die Hände in die Taschen seiner kurzen Kakhihose.
"Ich auch nicht", sagte er und seufzte betrübt. "Ich
bin der einzige hier aus meiner Gegend." Er wartete ab, ob sein Sitznachbar
irgendein Zeichen von Mitleid zeigte. Der schien sich aber stattdessen
weiter zu entspannen. Er ließ sich ähnlich weit im Sitz hinuntersinken,
bis seine Knie fast "anschlugen". Er schaute zu Fabian auf und
grinste unsicher.
Fabian erklärte: "Meine Mutter geht auf Dienstreise, deshalb
hat sie mich einfach zu diesem Camp angemeldet." Immer noch keine
Reaktion auf Fabians Leidensgeschichte. Sein rotblonder Nachbar war fast
vom Sitz gerutscht und arbeitete sich nun wieder etwas höher hinauf.
Da fragte Fabian: "Warst du schon mal in so einem Camp?"
Der rotblonde Junge mit den Sommersprossen nickte ausgiebig. "Aber
noch nie so lange." Und nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu:
"Und mein Vater war dabei."
"Ach so", sagte Fabian. Zusammen mit einem richtigen Dad hätte
er so ein Ferienlager auch ganz erträglich gefunden. Walter war einmal
mit ihm und Jeremy zelten gegangen, das war toll gewesen. Fabian hatte
Walter zwar niemals "Dad" genannt, und er war sich auch gar
nicht sicher, wie man sich wohl fühlte, wenn man einen richtigen
Dad hatte, aber nachdem Walter und Jeremy weg waren, hatte er deutlich
gespürt, was ihm mit einem Mal fehlte. Und das waren nicht nur solche
Kleinigkeiten wie der Duft von dem starken Kaffee, den Walter gerne trank,
oder sein Rasierzeug im Badezimmer. Fabian fühlte sich seither irgendwie
verletzlich. Wenn nun ein "böser Brief", wie zum Beispiel
eine überhöhte Rechnung, ins Haus flatterte, jammerte seine
Mutter tagelang darüber herum, telefonierte mit Freundinnen und fragte
klagend um Rat und bezahlte am Ende doch den vollen Betrag. Walter hätte
wegen so einem Brief nur gebrummt und die Rechnung am nächsten Tag
reklamiert.
Fabian bekam eine Tüte mit bunten Gummibärchen unter die Nase
gehalten. Sein Sitznachbar hatte sie aus seinem Nylonbeutel hervorgekramt
und bot sie nun grinsend an.
Fabian musste auch grinsen und schob sich ein paar Gummibärchen zwischen
die Zähne.
Der Bus fuhr schon eine ganze Zeit lang auf einer gewundenen Landstraße
zwischen waldbestandenen Hügeln. Die Gummibärchen waren aufgegessen,
und Fabian hatte inzwischen herausbekommen, dass sein rotblonder Sitznachbar
mit Namen Patrick hieß. Oder einfach Paddy. Und Paddy wusste inzwischen,
wie Fabian hieß.
Bei einem großen Ausflugslokal im Blockhausstil bog der Bus auf
eine Schotterstraße ab, die ein Stück in den Wald hinein führte.
Dann hielt er auf einem Parkplatz, vor einem hölzernen Torbogen,
der links und rechts von einem Stück Palisadenzaun eingefasst war.
"Camp Wildwasser" stand auf dem Torbogen.
"Wir sind da!" riefen die Kinder durcheinander und sprangen
von ihren Plätzen auf.
Fabian wurde vom Gedrängel mit hinausgeschoben. Paddy blieb irgendwo
hinter ihm.
Draußen angelangt, sah sich Fabian flüchtig um. Von wegen "Wildwasser"!
Ein stiller grüner See lag hier im Wald, links davon ein gewöhnlicher
Campingplatz und rechts eben das Ferienlager. Die hohen Berge vom Handzettel
waren auch nirgends zu sehen. Ringsherum gab es eher flache Hügel
mit Kiefernwäldern. Und von wegen "fernab vom Großstadtlärm"!
Das Feriencamp lag gerade eben so weit von der Landstraße entfernt,
dass man die Autos nicht vorbeisausen sah. Und das Ausflugslokal würde
auch seinen Teil an nächtlicher "Stimmung" produzieren.
Aber Fabian beruhigte das alles eher. Die zivilisierte Welt war nur einen
Steinwurf entfernt.
Er holte sich seinen Rucksack aus dem Gepäckraum des Busses und folgte
dem aufgeregten Haufen Kinder durch den hölzernen Torbogen. Das Tor
wurde flankiert von zwei Erwachsenen: Einem Mann mit Vollbart und Brille,
der den Kindern eine flüchtige Begrüßung zumurmelte, und
einer jungen Frau mit kurzen Haaren, die die ankommenden Kinder zählte.
Sie blieben auf einem sandigen Platz vor einem Flachdach-Gebäude
stehen, das eindeutig das größte Haus im Lager war und deshalb
so etwas wie das Zentrum darstellte. Drumherum verteilt lagen kleine Hütten
im Blockhausstil.
Der Mann mit Vollbart und Brille rief dann mit lauter, selbstsicherer
Stimme über das Gekicher und Getuschel der Kinder hinweg: "So,
dann scheinen wir ja vollzählig zu sein, das ist ja erfreulich. Ich
begrüße euch sehr herzlich im Feriencamp 'Wildwasser'. Mein
Name ist William, ich bin der Leiter dieses Camps. Wann immer ihr Kummer
oder Fragen habt, könnt ihr zu mir ins Büro kommen. In meinem
Büro gibt es auch Telefon, Fax oder meinetwegen E-Mail, so dass ihr
im NOTFALL...", er betonte dieses Wort und machte danach eine Kunstpause,
"im Notfall eure Eltern verständigen könnt. Wenn ihr nur
telefonieren wollt, um zu erzählen, wie schön es hier ist, benutzt
bitte den Münzapparat im Flur unseres Haupthauses. Das Camp verlasst
ihr bitte nur in Begleitung eines Gruppenleiters. Diese Gruppenleiter
möchte ich euch jetzt vorstellen." Der Vollbart-Mann, William
wie er hieß, ging um die Kinder herum an den Eingang des Haupthauses,
wo sich auf einer Treppenstufe zwei Frauen und zwei Männer aufgestellt
hatten.
Vollbart-William erklärte: "Ihr werdet euch gleich auf vier
Gruppen aufteilen - zwei für die Mädchen, zwei für die
Jungs. Je nach Gruppe bekommt ihr dann vom Gruppenleiter zwei T-Shirts
und ein Sweatshirt in der Farbe eurer Gruppe. Jede Gruppe hat ein anderes
Programm für die folgenden Tage, ihr solltet euch also für eine
Gruppe entscheiden, die euren Interessen entspricht. Die Gruppenleiter
stellen sich jetzt selbst und ihre Gruppe vor. Fangen wir an mit den Gruppen
der Mädchen."
Die Frau mit den kurzen Haaren, die am Eingang gezählt hatte, hielt
jetzt ein weißes T-Shirt hoch, das mit der Zeichnung eines langhalsigen
Vogels bedruckt war. "Ich heiße Marion, ich leite die Gruppe
der Schwäne."
"Gänse!" rief eine Jungenstimme dazwischen, und erntete
allgemeines Gekicher. Der Stimme nach war das der berühmte Angelo
aus dem Bus.
Die kurzhaarige Marion fuhr unbeirrt fort: "Die Schwäne fühlen
sich im und auf dem Wasser wohl, sie schwimmen und rudern gern, aber sie
haben auch Sinn für das Schöne und Anmutige."
Die Mädchen tuschelten darauf durcheinander. Anscheinend fühlten
sich die meisten bereits als Schwäne.
Die andere Gruppenleiterin trug längeres, gelocktes Haar und ein
rotes T-Shirt, von denen sie nun auch eins hochhielt. "Ich bin Christine
und ich bin ein Waschbär", sagte sie mit etwas weniger forscher
Stimme als ihre Kollegin. Sie erntete damit Gelächter aus den Reihen
der Jungs.
"Und wo ist dein Schwanz?" rief eine wohlbekannte Jungenstimme.
Darauf gab es noch mehr Gelächter und ein ziemliches Durcheinander.
Bis schließlich die laute Stimme vom Vollbart-William dazwischen
rief: "Also bitte, seid mal ruhig jetzt!"
Dann konnte Christine, die Waschbär-Frau, fortfahren: "Die Waschbären
fahren gerne Kanu, machen Ausflüge ans andere Seeufer und basteln
auch mal gerne. Wir Waschbären helfen uns gegenseitig."
Wieder Getuschel unter den Mädchen. Es war klar, dass man sich für
eine Gruppe entscheiden sollte. Die weißen Schwäne waren etwas
für die Mädchen, die gerne und gut schwimmen, und die roten
Waschbären eher etwas für die Wasserscheuen.
Nun baute sich der erste Gruppenleiter für die Jungs auf, ein schlanker
junger Mann vom Typ 'Strandsurfer'. Er hatte langes, krauses Blondhaar,
das er sich zum Pferdeschwanz gebunden hatte. Er trug ein schwarzes T-Shirt,
auf das mit weißer Farbe ein Adler gedruckt war. Ein bewunderndes
Raunen ging durch die Reihen der Jungs. Der Surfer-Typ sagte: "Ich
bin Hank und ich führe die Adler an. Wir Adler sind mutig aber nicht
leichtsinnig. Wir lernen Tauchen im See und wir werden zusammen ein Floß
bauen."
Eine große Unruhe erfasste die Gruppe der Jungs, und irgendwie drängten
schon einige in die Richtung von Hank, dem Surfer-Typ. Es war klar, dass
die Gruppe der Adler im schicken schwarzen T-Shirt die Gruppe für
die "richtigen" Jungs war. Was danach kam, konnte nur noch etwas
für Waschlappen sein.
Und so sah denn auch der vierte Gruppenleiter aus, nämlich ungefähr
wie Elton John in Shorts und Sandalen. Ein pummeliger junger Mann mit
braver Pony-Frisur und Brille. Er trug ein dunkelgrünes T-Shirt mit
einem Aufdruck, den man schlecht erkennen konnte. "Ich heiße
Brian, und zu mir gehören die Biber. Wir werden uns in der Natur
umsehen und in einem nahegelegenen Wildpark die Tiere füttern. Wir
angeln im See und machen Lagerfeuer."
Viel Beachtung wurde dem pummeligen Brian von den grünen Bibern nicht
mehr geschenkt. Sein Vortrag ging fast im Getuschel und Getratsche der
Kinder unter. Die Grüppchen und Cliquen, die sich bereits kannten,
versuchten sich, auf eine Gruppe zu verständigen. Um den bewussten
Angelo mit seiner roten Baseballmütze herum, schien man sich etwas
uneinig zu sein. "Ich mag aber auch Angeln und Lagerfeuer!"
protestierte da einer von seinen Mitläufern. "Bist du bekloppt?"
rief die mittlerweile wohlbekannte Stimme Angelos, "das gehört
doch zu diesen Biber-Dumpfbacken!"
"Hallo", rief Vollbart-William in den Tumult hinein. "Ich
will noch sagen, dass Lagerfeuer mit Würstchen-Grillen, unser Laternenfest
und eine Nachtwanderung zum Programm von allen Gruppen gehört. Keiner
verpasst etwas!"
"Siehst du?" herrschte Angelo seinen Kumpanen an.
"Ich möchte euch jetzt bitten - langsam und gesittet - euch
auf die Gruppen aufzuteilen. Wer sich nicht entscheiden kann, kommt eben
in die Gruppe, bei der noch am meisten Platz ist."
Die vier Gruppenleiter gingen zu ein paar Tischen, auf denen die T-Shirts
und Sweater in den vier Farben gestapelt bereit lagen. Hinter ihnen her
strömten die Kinder, und natürlich wurden die Marion von den
Schwänen und der Surfertyp Hank von den Adlern zuerst bedrängt.
Fabian war nicht der Typ, der sich vordrängelt, aber irgendwie hatte
ihn die ganze Blase mit Angelo voran zum Tisch der Adler mitgezogen, und
prompt bekam er von Hank einen Packen schwarzer Shirts mit einem Augenzwinkern
in die Hand gedrückt. Na klar, er war ja lang und dünn, das
wirkte sportlich. Selbstverständlich wurde er zum Adler gekürt,
keine Frage. Direkt neben ihm johlte plötzlich laut eine Jungenstimme.
Das war Angelo, den er zum ersten Mal von nahem sah. Ein gebräunter
Junge in Fabians Alter mit dunklem, leicht lockigem Haar hielt triumpfierend
ein Bündel schwarzer Shirts hoch. Man konnte nicht bestreiten, dass
Angelo gut aussah, wie Fabian fast beunruhigt bemerkte. Für einen
Augenblick trafen sich ihre Blicke, und Angelos dunkle, lebhafte Augen
schienen hoch erfreut zu sein, dass dieser dünne Junge mit der Musiker-Mähne
wie er zu den Adlern gehörte.
Hank
schien alle seine Shirts verteilt zu haben, als die Elton-John-Kopie namens
Brian zu ihm trat, ihm ein paar Dinge ins Ohr sagte und dabei einen Zettel
zeigte. Dann gingen beide Gruppenleiter zu ihrem Chef, dem Vollbart-William.
"Ähm, wir haben hier ein kleines Problem mit den Gruppen der
Jungs", verkündete der Chef mit seiner lauten Stimme. "Wir
haben für jede Gruppe drei Hütten mit jeweils sechs Betten,
also insgesamt 18 pro Gruppe. Und wir haben leider zweimal Hemden für
die Adler zuviel ausgeteilt. Es sind jetzt 20 Adler aber nur 14 Biber.
Ich möchte euch bitten, zwei Freiwillige zu finden, die von den Adlern
zu den Bibern wechseln."
Man konnte merken, wie nach dieser Ankündigung einige Jungs mit Adlerhemden
im Arm ein, zwei Schritte zurückwichen, als ob man ihnen die Hemden
wieder wegnehmen wollte.
Fabian schaute hinüber zu dem Häufchen Jungs mit den grünen
Shirts der Biber im Arm. Es war die Gruppe der Pummeligen, der Langsamen
und der Ängstlichen. Was für eine Loser-Truppe, dachte sich
Fabian. Aber viele Kleine waren auch dabei, und zwischen denen sah Fabian
den rotblonden Haarschopf von Patrick hervorleuchten, seinem Sitznachbarn
aus dem Bus. Und als Patrick Fabian sah, hob er kurz den Arm, als wollte
er winken.
Fabian machte einen tiefen Seufzer und ging hinüber zu Hank, dem
Surfertyp, und gab ihm die schwarzen Hemden zurück. "Hier, was
soll's", sagte er dazu.
Der blonde Gruppenleiter der Adler schien fast enttäuscht, dass es
ausgerechnet Fabian war, der freiwillig zu den Bibern wechselte. Mit einem
kurzen Nicken nahm er die Hemden zurück.
Fabian fühlte sich dabei nicht besonders. Das ganze erinnerte ihn
an die Prozedur im Sportunterricht, wenn sich einige Anführer die
Mitspieler für eine Basketballmannschaft aussuchen durften, und die
Dicken und Unbeweglichen immer bis zuletzt sitzenblieben. Fabian hasste
das.
Eine dicke, patschige Hand klopfte ihm auf die dünne Schulter. "Willkommen
bei den Bibern", sagte Brian, der Gruppenleiter, und reichte ihm
einen Stapel dunkelgrüner Wäsche.
Bemüht nicht mitzukriegen, was hinter ihm für Gesichter gemacht
wurden, trottete Fabian zum Grüppchen der Biber. Patrick schaute
ihn ein paar Mal kurz an und wirkte dabei unsicher, ob Fabian ihn überhaupt
wiedererkannte. "Hi", sagte Fabian in seine Richtung, und Patrick
zuckte fast zusammen und sagte auch "Hi!" und strahlte dann
erleichtert.
Der zweite "Freiwillige" musste ausgelost werden, und Fabian
betete innerlich "Lass es nicht Angelo sein!", denn das hätte
wohl für ständigen Ärger gesorgt und letztlich das ganze
Camp verdorben. Es traf glücklicherweise einen recht großen,
ruhigen Typen, der auch nicht lange protestierte.
"Das hätten wir dann", rief der Vollbart-William. "Ihr
dürft übrigens die Hemden am Ende behalten, als Erinnerung an
eine hoffentlich schöne Zeit. Ihr bezieht jetzt bitte eure Unterkunft.
Eure Gruppenleiter zeigen euch, wo das ist. Danach treffen wir uns wieder
zum Mittagessen."
Die Gruppenleiter dirigierten den jeweiligen Haufen, der zu ihnen gehörte,
in jeweils eine andere Richtung. Die drei Blockhäuschen der Biber
standen am Waldesrand und machten von außen einen recht gemütlichen
Eindruck.
"Also", sagte Brian und rückte seine Brille zurecht, "wer
mit wem in einer Hütte schläft, überlasse ich euch, aber
macht bitte kein Drama daraus. Alle Hütten sind gleich groß
und gleich gut. Außerdem sind wir nur 16, da bleibt uns etwas mehr
Platz. Waschraum, Duschen und Toiletten für die Jungs sind dort drüben,
an der Rückseite des Haupthauses. Verteilt euch jetzt mal, ich komme
nachher zu euch, um eure Namen aufzuschreiben."
Die Biber sahen sich unschlüssig um, nur ein kleines Grüppchen,
das sich wohl bereits kannte, stürmte die erste der Hütten.
Fabian fühlte, wie sich jemand zaghaft hinten an seinem Hemd festhielt,
und er musste nicht lange raten, wer das war. Er schaute sich kurz um
und sagte zu Patrick: "Na, komm!" Und dann gingen sie zusammen
in die nächste Hütte.
Es war recht dunkel da drin, und es roch nach altem Holz. An den Wänden
standen drei Etagenbetten einfachster Machart mit dünnen Matratzen
und je einem Stapel Bettlaken und Wolldecken darauf. Die üblichen
lausigen Betten, dachte sich Fabian. Ansonsten gab es noch einen Tisch
und Stühle.
"Gestank steigt nach oben", sagte ein großer, dicklicher
Junge mit hellen, kurz geschorenen Haaren und warf seinen Rucksack auf
eines der unteren Betten, als Zeichen, dass das jetzt ihm gehörte.
Fabian und Patrick blieben an dem Etagenbett stehen, das am nächsten
zur Tür stand und das so auch das meiste Licht von dem kleinen Fenster
neben der Tür abbekam. "Wo möchtest du schlafen, unten
oder oben?" fragte Fabian.
Patrick hob die Schultern. "Weiß nicht." Er besah sich
das Bett und schien generell nicht gerade begeistert davon. Die Matratzen
waren fleckig, die Wolldecken waren billigstes, dunkelgraues Zeug und
sahen ziemlich kratzig aus. Schließlich setzte er sich auf das untere
Bett.
Fabian setzte seinen Rucksack auf dem oberen Bett ab. Dann schaute er
in die Runde. Zu ihnen hatten sich außer dem großen, dicklichen
Jungen noch zwei gesellt, so dass sie zu fünft in der Hütte
waren und ein Bett frei blieb. Der eine war fast noch kleiner als Patrick
und ziemlich pummelig und wirkte mit seinen Pausbacken und dem halblangen,
schwarzen Haar recht mädchenhaft. Der andere war ein schmächtiges
Kerlchen mit braunem Haar und Brille. Da Fabian die Namen dieser drei
Mitbewohner noch nicht kannte, verteilte er in Gedanken Spitznamen. Der
Große, Dickliche war für ihn das "Walroß",
das mädchenhafte Pummelchen die "Senhorita" und der Schmächtige
mit der Brille der "Klassenstreber". Die Senhorita und der Klassenstreber
teilten sich das dritte Etagenbett. Alle fünf Jungs musterten sich
eine Weile schweigend.
"Hi", sagte Fabian.
"Hi", sagten die anderen.
"Sieht aus, als würden wir die nächsten acht Tage zusammen
verbringen", fuhr Fabian fort, um wenigstens irgend ein Gespräch
in Gang zu bringen. Aber die anderen wussten dazu nichts hinzu zu fügen.
In die Stille platzte Brian, der Gruppenleiter, der leicht gehetzt schnaufend
durch die Tür kam und einiges Schreibzeug auf den Tisch legte. "Sooo",
rief er und zog sich einen Stuhl heran, "jetzt kommen wir zu euren
Namen. Ich mach für jeden ein Namensschildchen, das kleben wir auf
eines eurer Biber-Shirts und das tragt ihr bitte die erste Zeit, damit
wir uns kennenlernen." Er rückte seine Brille zurecht, schaute
sich kurz um und deutete dann mit dem dicken Filzstift in seiner Hand
auf Fabian, der ihm am nächsten stand. "Vor- und Nachname!"
"Fabian Waitaweill", sagte Fabian.
Brian schaute auf eine Liste. "Waita-was? Ach hier! Fabian, also..."
Er hakte einen Namen auf der Liste ab und kritzelte dann mit quietschendem
Stift etwas auf einen Bogen mit gelben Aufklebern. Dann zog er den Sticker
ab und hielt ihn mit den Fingerspitzen fest. "Ein Biber-Shirt, bitte!"
Fabian hielt ihm eins seiner dunkelgrünen Hemden hin, und Brian pappte
den Aufkleber vorne drauf.
"Nächster", sagte Brian und deutete auf Patrick.
"Patrick Finn", sagte der rotblonde Junge ziemlich leise.
"Bitte?" fragte Brian, der die Antwort mit seinem eigenen gehetzten
Schnaufen übertönt hatte.
Mit angestrengtem Nachdruck wiederholte Patrick: "Patrick Finn!"
"Ah, ja", sagte Brian und hakte einen weiteren Namen ab. Auf
den Aufkleber schrieb er einfach nur "Pat". Patrick protestierte
nicht, obwohl er noch im Bus gesagt hatte, sein Spitzname wäre Paddy.
Das Walroß hieß Dan, die Senhorita entpuppte sich als Julio
und der Klassenstreber war im wahren Leben bekannt als Michael und bekam
einfach "Mike" auf's Hemd gepappt.

Brian sammelte seinen Kram wieder zusammen und stand auf. "Lebt
euch erstmal ein. Das Beziehen der Betten kriegt ihr alleine hin, oder?"
Fabian nickte. Die Prozedur war ihm bestens bekannt.
"Okay, dann sehen wir uns nachher, beim Mittagessen", sagte
Brian und machte sich auf zur nächsten Hütte. In der Tür
drehte er sich nochmal um. "Und zieht bitte die Shirts mit den Namen
drauf an. Ihr seid ab jetzt Biber!" Dann verschwand er.
Die Jungs sahen sich im stillen Halbdunkel der Blockhütte an. Fabian
hob die Schultern, zog dann sein Polohemd aus und faltete es sorgsam zusammen,
um es in seinem Rucksack zu verstauen. Patrick blieb dabei unentschlossen
auf seinem Bett sitzen und betrachtete Fabians nackten Oberkörper.
Fabian registrierte dies mit einem leichten Kribbeln, fast wie bei einer
Gänsehaut. Wie wirkte er wohl auf den schätzungsweise zwei Jahre
jüngeren Patrick? Fabian war leicht gebräunt von den vielen
Spielen im Garten der Edlunds. Vielleicht schämte sich Patrick für
seine helle, sommersprossige Haut?
Der rotblonde Junge seufzte und zog dann sein Hemd aus, aber darunter
trug er noch ein Unterhemd, das er anbehielt. Dann stülpte er sich
das grüne T-Shirt der Biber über, das für ihn ziemlich
groß geraten war. Aus dem Halsausschnitt schaute immer einer der
Unterhemdsträger hervor, egal in welche Richtung er das T-Shirt zupfte.
Dem Walroß namens Dan war das Shirt fast zu kurz. Aber die beiden
Kleinen, die Senhorita Julio und der Klassenstreber Mike, hätten
mit ihren Hemden zelten gehen können. Die Jungs machten ein paar
Bemerkungen darüber und lachten. Dann gingen sie daran, ihre Betten
zu beziehen.
Mike, der Klassenstreber-Typ mit der Brille, hielt dazu einen betulichen
Vortrag, als müsse er allen erklären, wozu die Bettlaken seien.
Es gab zwei Laken. Eines davon sollte man auf die Matratze ziehen, das
andere sollte verhindern, dass die grobe Wolldecke auf der Haut kratzt.
Schließlich gab es noch einen Bezug für die kleinen, kümmerlichen
Kopfkissen. Das Walroß Dan hatte sein Bett ziemlich schnell und
unordentlich mit Laken und Decken versehen, und nun breitete er sich selbst
darauf aus. "Weckt mich, wenn es Essen gibt."
Im Haupthaus gab es einen Speisesaal mit Tischen und Bänken. Dort
versammelte man sich zur Mittagszeit. Das Essen bestand aus simplen Nudeln
mit einer Fleischsoße, als Nachtisch gab es Pudding.
Wie zu erwarten, blieben an den Tischen die Mitglieder einer Gruppe unter
sich. Ganz selten mischte sich irgendwo ein andersfarbiges T-Shirt darunter.
Der Tisch mit Angelo und seinen Hüttenkameraden in schwarzen T-Shirts
fiel durch entsprechende Lärmentwicklung auf. "Ey, was is das
denn für'n Fraß?" - "Eh, Angelo, kuck mal!"
- "Üäh, das sieht aus wie Dünnschiss!" Die Jungs
an diesem Tisch blieben auch kaum ruhig sitzen. Als schließlich
eine Portion Pudding von diesem Tisch auf den Fußboden klatschte,
kam Marion, die kurzhaarige Gruppenleiterin der Schwäne, dazu und
brachte die Jungs ziemlich energisch zur Räson. Das wirkte. Wenn
man Angelo dazu brachte, die Klappe zu halten und auf seinem Stuhl zu
bleiben, war im Handumdrehen die ganze Bande still.
Und tatsächlich war es Angelo - der schöne Angelo - der nach
dem Essen mit Eimer und Aufnehmer den Puddingfleck wegwischen musste.
Am Nachmittag gingen alle auf Wanderschaft, um den See und den umgebenden
Wald zu erkunden. Jede Gruppe schlug eine andere Richtung ein. Brian ging
mit seinen Bibern einen Waldweg entlang, der mit der Zeit schmaler wurde
und einen Hügel hinaufführte. Sie sollten sich die Quelle eines
Bachs anschauen, außerdem gab es einige Büsche mit interessanten
Beeren, auf die Brian die Jungs hinwies. Man merkte, dass der Gruppenleiter
der Biber diesen Weg schon oft gegangen war. Er leierte seine Erklärungen
manchmal wie ein Museumsführer herunter.
Am höchsten Punkt ihres Marsches angekommen, genossen sie die Aussicht
über den See, der von diesem erhöhten Standpunkt wirklich sehr
schön aussah, wie Fabian zugeben musste.
"Ihr habt doch alle eine Badehose mit?" fragte Brian in die
Runde. "Wenn es so warm bleibt, werden wir nämlich öfter
schwimmen können im See. Das Wasser ist herrlich!"
Fast alle schauten ein wenig beklemmt, sagten aber nichts. Es war bislang
nicht die Rede davon gewesen, dass auch die Biber schwimmen müssten.
Es hatten bestimmt einige gedacht, sie kämen in der Gruppe mit den
grünen Shirts darum herum.
Zurück im Camp wurde verkündet, dass es statt Abendessen ein
Lagerfeuer mit Toast und Würstchen geben würde, und dass der
Nachmittag bis dahin zur freien Verfügung und zum Einleben wär.
Die Clique um Angelo war sich schnell einig, dass man den Nachmittag beim
Baden im See verbringen würde. Obwohl es nicht übermäßig
sonnig war, herrschte schon den ganzen Tag eine schweißtreibende
Hitze, da wäre eine Abkühlung doch das Richtige.
Fabian hatte auch Lust zum Schwimmen, aber das würde er wohl allein
tun müssen, denn seine Hüttenkameraden wirkten gar nicht so,
als wollten sie jetzt eine Badehose anziehen. Einschließlich Paddy
zogen sie sich lieber in die Hütte zurück und spielten Karten.
Grummelnd kam Fabian hinterher, um sich umzuziehen. Und das tat er dann,
ohne sich etwa schamhaft hinters Bett zu stellen. Sollten ihm die anderen
doch auf den blanken Hintern schauen, Fabian hatte kein Problem damit.
An dem Seeufer, das zum Camp gehörte, hatte man ein Stück Sandstrand
aufgeschüttet, und daneben ragte ein Bootssteg weit in den See, der
sich für einen beherzten Sprung mit Anlauf anbot. Fabian wurde von
ein paar rennenden Jungs überholt, die er ohne die schwarzen T-Shirts
zunächst gar nicht wiedererkannte. Aber auch ohne verkehrt herum
aufgesetzte Baseballmütze war Angelo auszumachen. Er war ein gutes
Stück braun gebrannter als seine Kumpane und er trug eine Badeshorts
in auffälligen Neonfarben. Sie rannten den Bootssteg hinunter und
sprangen mit lautem Johlen in das grünliche Wasser.
Fabian ging gemächlich hinterher und setzte sich schließlich
an das Ende des Stegs und ließ die Füße ins Wasser baumeln.
Es war wärmer, als Fabian erwartet hatte, und klarer als die grünliche
Farbe vermuten ließ.
Die anderen Jungs strampelten wild im Wasser herum und spritzten hohe
Fontänen um sich. Dann kletterten sie wieder auf den Bootssteg, um
erneut mit Anlauf in den See zu springen. Fabian schienen sie dabei zu
ignorieren, obwohl sie manchmal haarscharf an seiner Schulter vorbeisprangen.
Aber dann spürte er plötzlich zwei nasse, kalte Hände in
seinem Rücken, die ihn nach vorne schubsten, und im nächsten
Augenblick wurde der Sonnenschein und das laute Gelächter um ihn
herum vom grünen Wasser verschluckt. Als Fabian wieder auftauchte,
lachten die Jungs immer noch.
"Was ist mit dir, ey?" hörte er eine Stimme von weiter
oben. "Kannst du nicht schwimmen oder bist du wasserscheu?"
Auf dem Steg stand Angelo mit seinen Neonshorts. Er hatte Fabian ins Wasser
geschubst.
Fabian wischte sich die Augen frei. "Wenn ich wasserscheu wäre,
dann hätte ich doch gar nicht erst eine Badehose angezogen."
"Bist du nicht bei den Bibern?" bohrte Angelo nach.
"Ja", sagte ein anderer, "der ist doch freiwillig zu den
Luschen gegangen."
"Ihr werdet was Schönes aus Pfeifenreinigern basteln, während
wir... wir..."
"Wir werden ein Floß bauen! Ein richtiges Floß aus Baumstämmen,
hat Hank gesagt!"
In Gedanken wünschte sich Fabian kaltes Regenwetter, damit diese
Hohlköpfe in ihren Hütten bleiben und die Wand anstarren mussten.
"He, warum bist du zu den Bibern rübergegangen?" wollte
Angelo immer noch wissen. Er setzte sich seinerseits jetzt auf den Rand
des Stegs, gewissermaßen auf Fabians Platz, und pitschte mit den
Füßen im Wasser herum, dass einige Tropfen in Fabians Gesicht
landeten.

Fabian kniff die Augen zusammen. "Ich dachte mir, wenn sie DICH
da hinschicken, gibt es nur Ärger, die ganze Woche lang. Oder einen
von deinen Kumpels." Er schaute in die Runde. Den Kumpanen schien
es gut zu gefallen, als Angelos Kumpels bezeichnet zu werden. Sie grinsten
und ruderten mit den Händen im Wasser.
Angelo hörte auf, Fabians Gesicht zu bespritzen. Seine dunkelbraunen
Augen musterten Fabian, und fast einen Tick zu lange trafen sich ihre
Blicke, und Angelo sah aus, als wollte er dazu etwas sagen. Aber er sagte
nichts, sondern ließ sich nur vornüber ins Wasser fallen.
Einer der Kumpanen, ein blonder Junge mit Zahnklammer, rief: "Lasst
uns machen, wer am weitesten ins Wasser springen kann!"
"Jaaa!" riefen die anderen und hüpften spritzend zurück
zum Steg, um wieder aus dem Wasser zu klettern.
Fabian fühlte, wie unter Wasser jemand seine Knöchel packte
und ihn von den Füßen riss. Blubbernd verschwand sein Kopf
erneut im kühlen, grünlichen Nass. Er ruderte unter Wasser mit
Armen und Beinen, bis die Welt wieder ein Oben und Unten hatte. Von der
Seite glitt eine neonfarbene Badeshorts an ihm vorbei, und darin steckte
Angelo, der ihm unter Wasser noch kurz einen schelmischen Blick zuwarf
und dann wieder auftauchte. Die Shorts und die dazu gehörenden, gebräunten
Beine erklommen den Steg jenseits der Wasseroberfläche. "Dieser
Typ hat mich irgendwie auf dem Kieker", dachte sich Fabian, bevor
auch er wieder auftauchte.
"Bahn frei!" rief der blonde Kumpan mit der Zahnklammer und
sauste durch die Luft, bis er mit den angehockten Füßen voran
ins Wasser klatschte.
"Arschbombe!" brüllte der nächste, ein etwas kräftigerer
Typ. Er flog nicht besonders weit, erzeugte aber eine besonders hohe Fontäne.
Fabian war sich nicht sicher, ob er auch einmal springen sollte, oder
ob er den Anderen nur im Weg war. Aber Angelo wartete extra, bis auch
er auf den Steg geklettert war, und ließ ihm sogar den Vortritt.
"Lass mal was sehen", sagte er.
Fabian nahm Anlauf. "Weg da!!!" rief er und machte einen weiten
Satz. Für einen Augenblick segelte sein schlanker Körper durch
die warme Sommerluft, für einen Augenblick schien es, als würde
er über die gleißenden Spiegelungen hinweg bis ans andere Ufer
springen können. Dann krachte er in einen kühlen Strudel aus
Luftblasen und trübem grünen Schimmer. Seine Haut an Füßen
und Schenkeln brannte ein wenig von dem harten Aufschlag, aber das ließ
in dem kühlenden Wasserstrom schnell wieder nach. Mit ein paar Schwimmstößen
tauchte Fabian weiter, nutzte den Schwung seines weiten Sprunges. Dann
ließ er sich langsam zurück an die Oberfläche treiben.
Er war ziemlich weit gekommen, man konnte an dieser Stelle des Sees längst
nicht mehr stehen. Das Wasser unter seinen Füßen war dunkel
von grünem Algengewächs. Mit den Armen paddelnd wandte er sich
um. Er war mindestens zwanzig Meter vom Steg entfernt.
Von den Figuren, die dort auf dem Steg standen, kam anerkennendes Geraune.
Der mit der Zahnklammer pfiff sogar. Angelo wollte sich das anscheinend
nicht bieten lassen, dass seine Kumpane von einem anderen Jungen beeindruckt
waren. Er nahm Anlauf. Mit kraftvollen, polternden Schritten schoss er
über den Bootssteg, dann segelte die Leuchtspur einer neonfarbenen
Badeshorts durch die Luft und mit einem weit spritzenden Klatscher verschwand
Angelo. Einige kleine Wellen und Wellenringe breiteten sich aus und legten
sich wieder, und für ein paar Atemzüge blieb das Wasser ruhig.
Und dann noch etwas länger.
Und dann tauchte Angelos Kopf wieder auf, ein Stück entfernt von
Fabian. Aber eindeutig etwas näher zum Steg. Prustend und rudernd
schaute Angelo sich um.
Die Kumpane auf dem Steg schwiegen betreten.
Angelo wollte das nicht wahrhaben. "Du bist weiter geschwommen, während
ich unter Wasser war!" rief er Richtung Fabian. "Gib's zu, du
hast dich bewegt!"
Fabian lächelte nur. Dasselbe schelmische Lächeln, dass ihm
Angelo zugeworfen hatte, nachdem er ihn von den Füßen geholt
hatte. Dann schwamm er zurück Richtung Steg.
"He, wie heißt du überhaupt?" fragte der mit der
Zahnklammer.
"Fabian", sagte Fabian.
Der Rest des Nachmittags verging ziemlich schnell. Die Jungs maßen
sich noch darin, wer am weitesten tauchen oder am längsten unter
Wasser bleiben konnte, und da sie keine Stoppuhr dafür hatten, mussten
sie dazu langsam zählen, was für einigen Streit sorgte. Im Luftanhalten
war Fabian nicht besonders gut, und so war Angelo über seine kleine
Niederlage schnell hinweg. Und am Ende nannte er sogar Fabian bei seinem
Namen und nicht mehr nur "Hey!".
Ziemlich ausgepumpt trottete Fabian schließlich zurück zu den
Hütten der Biber. Auf dem Rasenplatz hinter dem Haupthaus sah er
die Gruppenleiter Brian und Christine, wie sie Holz und Zweige für
das Lagerfeuer aufschichteten. Ein schönes knackendes Feuer und eine
rauchige Grillwurst - das könnte er jetzt gut gebrauchen!
In seiner Hütte herrschte Stille, als wären seine Mitbewohner
bereits alle schlafen gegangen. Tatsächlich lag Dan, das Walroß,
wieder auf seinem Bett und hörte Musik. Die Anderen waren nicht zu
sehen, vielleicht waren sie draußen auf Erkundungstour. Noch immer
tropfend, suchte sich Fabian das Handtuch aus seinem Rucksack.
"Da bist du ja endlich", sagte eine helle Stimme hinter ihm.
Fabian fuhr herum. Patrick saß am Tisch, in einer recht dunklen
Ecke, in der ihn Fabian nicht gesehen hatte.
"Hi, Paddy", sagte Fabian und rubbelte sich mit dem Handtuch
seine Musiker-Mähne leidlich trocken.
Der rotblonde Patrick mischte lustlos den Stapel Spielkarten in seinen
Händen. "Warst du die ganze Zeit schwimmen?"
"Jepp!" kam es unter dem Handtuch hervor.
"Die ganze Zeit? Drei Stunden schwimmen??"
"Wir sind nicht viel geschwommen. Die meiste Zeit sind wir vom Steg
gesprungen. Oder haben unter Wasser die Luft angehalten und ein Anderer
hat gezählt."
"Achso." Patrick breitete die Karten auf der Tischplatte aus,
nur um sie dann wieder zusammen zu schieben.
"Du hättest auch ruhig mitkommen können. Es hat wirklich
Spaß gemacht", sagte Fabian und trocknete sich die Arme und
den Oberkörper ab.
"Nöö", sagte Patrick leise und lustlos.
"Ich meine, auch wenn du vielleicht nicht gut schwimmen kannst, das
ist gar nicht nötig. Wir sind eigentlich nur wild herumgesprungen,
dort, wo man noch stehen kann." Fabian hielt einen Augenblick inne
und beobachtete den kleineren Patrick. Der schaute nach einer Weile auf,
weil er merkte, dass Fabian ihn ansah. Und er sah Fabian regungslos in
die Augen. Hatte Fabian den Grund erraten, warum Paddy nicht baden gehen
mochte?
Patrick schlug die Augen nieder. Seine sommersprossigen Wangen leuchteten
rötlich.
"Ich kann auch erst einigermaßen schwimmen, seit mir mein...
mein Vater gezeigt hat, wie es richtig gemacht wird", sagte Fabian
und wurde selber ein bisschen rot, denn er meinte Walter, der gar nicht
sein Vater war. "Und da war ich schon elf."
"Achso", sagte Patrick und rührte leicht mit einem Finger
in dem Haufen Spielkarten herum.
"Ich kann es dir genauso zeigen. Wenn du magst."
Patrick sagte nichts, sondern rührte weiter mit dem Finger herum
und beobachtete, wie sich die Spielkarten drehten.
"Wenn die Luft rein ist und sonst keiner badet. Nur wir zwei."
Fabian setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Patrick. Der schaute
auf. Eine Weile wirkte er, als fragte er sich, ob er Fabian trauen könnte.
"Okay?" fragte Fabian. "Nur wenn die Luft rein ist."
Patrick machte einen tiefen Seufzer. "Okay."
Das Lagerfeuer prasselte und knackte und verbreitete einen Duft von feinem
Rauch und Nadelholz.
Die Gruppenleiterin der Waschbären, die lockige Christine, hatte
sich eine Gitarre umgehängt und intonierte zusammen mit einigen Mädchen
die unvermeidlichen Lieder, von "Kumbaya, My Lord" bis "Row,
row, row your boat". Den meisten knurrte aber schon empfindlich der
Magen, und besonders die Jungs konnten es nicht lassen, Toastscheiben
über das Feuer zu halten, von dem diese nur schwarze Brandspuren
bekamen.
"Erst warten, bis das Feuer heruntergebrannt ist!" ermahnte
Hank, der Surfertyp, ein ums andere Mal.
Natürlich waren die Jungs um Angelo herum die Ungeduldigsten, und
als der blonde Kumpan mit der Zahnklammer, von dem Fabian inzwischen wusste,
dass er Ryan hieß, sogar ein Stück Toast ins Feuer fallen ließ
und sich die Finger schüttelte, wurde Hank so wütend, dass er
ihn beinahe geohrfeigt hätte.
"Ist ja kaum zu glauben, verdammt noch eins!" fluchte Hank,
und Ryan rannte schnell in eine der weniger gut beleuchteten Regionen
des Grillplatzes.
Brian hatte seine grün gekleideten Biber zum guten Teil dazu eingespannt,
das Feuer zu versorgen, die Würstchen vorzubereiten und Getränke
aus großen Limonadenflaschen auszuschenken. Fabian, Patrick und
die "Senhorita" Julio waren bei den Getränken. Das traf
sich ganz gut, denn Fabian hatte vom Rumtoben im See einen gehörigen
Durst bekommen, und so bediente er sich erst einmal selbst mit ein paar
Bechern Limonade.
Und bald tauchte auch Angelo am Getränketisch auf. "Hi",
sagte er zu Fabian.
"Hi", grüßte Fabian zurück.
Angelo hatte seine Mütze in der Hütte gelassen, sein dunkles,
leicht lockiges Haar war inzwischen getrocknet und sah nun recht ungeordnet
aus, so wie Haar in einem Badeurlaub eben immer aussieht. Er grinste mit
seinen weißen Zähnen und den schönen, hellbraunen Lippen.
"Hast du keine Cola hier?"
"Nö. Nur Orange und Zitrone. Cola gibt immer Ärger mit
den Eltern, hat Brian gesagt", erklärte Fabian mit einem Schulterzucken.
"Dann gib mal eine Zitronenlimo", sagte Angelo.
Fabian goss einen Pappbecher voll klarer, sprudelnder Limonade.
Angelo probierte einen Schluck. "Na ja, nicht gerade meine Sorte."
Er kicherte, trank aber weiter.
Paddy hatte grad keine Kundschaft und stand nur da und betrachtete den
braungebrannten Schönling im schwarzen Adlershirt mit Argwohn. Auf
sein Namensschild hatte man "Angie" geschrieben, und es pappte
verkehrt herum auf dem schwarzen Stoff, was Angelo wahrscheinlich selbst
gemacht hatte, um witzig zu wirken.
"Dein Schild hängt verkehrt rum", bemängelte Patrick.
"Das siehst du verkehrt, Gartenzwerg", entgegnete Angelo, "aber
ich kann's für dich ja auf meinen Hosenstall kleben." Er musste
selbst lachen über seine Bemerkung und schickte dann auch noch einen
Rülpser von der Limonade hinterher.
Patrick setzte ein ganz finsteres Gesicht auf und schob die Unterlippe
vor.
"He... he, äh... Fabian!" sagte Angelo, der den Namen wohl
fast schon wieder vergessen hatte, obwohl er auf dessen T-Shirt klebte.
"Kommst du morgen wieder schwimmen, wenn wir Zeit dafür haben?"
Fabian schaute nervös zwischen Angelo und dem finster blickenden
Patrick hin und her. "Ich... weiß noch nicht..." Hatte
er nicht gerade erst Patrick versprochen, mit ihm allein baden zu gehen?
Angelo sagte: "Wir sehen uns!" Und dann trollte er sich.
Patrick blickte ihm wütend hinterher. "Affe!" zischte er.
Im weiteren Verlauf des Lagerfeuerabends blieb Patrick zwar in der Nähe
von Fabian, aber ihm fiel mehr und mehr auf, dass die Kumpanen von Angelo
Fabian plötzlich gut kannten und mit ihm sprachen, als gehöre
er zu ihnen. Und den kleinen Patrick übersahen sie im besten Fall.
Gegen Ende des Grillabends, als alle nur noch dösig auf dem Rasen
saßen und in die Glut starrten, stimmten Christine mit der Gitarre
zusammen mit einigen Waschbär-Mädchen Gute-Nacht-Lieder an.
Und dann verkündete Hank, dass die Adler noch da bleiben müssten
zum Aufräumen, und erntete damit Gemaule und Buhrufe.
"Benehmt euch das nächste Mal besser!" sagte er ungerührt.
"Das ist doch nur wegen diesem dämlichen Angelo!" zeterte
einer, der offenbar nicht zu den Kumpanen gehörte.
Die Mädchen und die Biber-Jungs machten sich davon.
Im Vergleich zur kühlen Nachtluft wirkte die kleine Hütte warm
und muffig. "Macht mal das Fenster auf!"
"Ich finde, wir haben es als Biber gar nicht so übel",
sagte Julio mit seiner hohen Stimme.
Dazu wurde beipflichtend gegrummelt.
"Die blöden Adler müssen den ganzen Müll wegräumen."
Fabian zog sich bis auf die Unterhose aus und setzte sich dann auf sein
Bett in der oberen Etage.
Weiter
unten druckste Patrick herum. Sich umzuziehen, während ihm Andere
dabei zusehen konnten, schien ihm nicht sonderlich zu gefallen. So weit
es ging, blieb er dabei auf seinem Bett sitzen. Er behielt seine Unterwäsche
und seine weißen Socken für die Nacht an. Abschließend
stand er dann doch einmal auf, ging zu einem der Stühle und hängte
sein Bibershirt und seine Hose ordentlich über die Stuhllehne. Fabian
sah ihm dabei zu. Seine Unterwäsche war weiß mit kleinen blauen
Elefanten drauf. Die Haut auf Armen und Beinen sah so rosig und so empfindlich
aus. Fabian bekam bei seinem Anblick ein merkwürdiges Gefühl.
Patrick wirkte so schutzlos, so verletzbar.
Als Angelo beim Schwimmen am Nachmittag Fabian gefragt hatte, warum er
denn zu den Bibern gewechselt war, da hätte er eigentlich keinen
richtigen Grund sagen können. Und zum Glück hatte sich ja Angelo
mit einer ausweichenden Antwort zufrieden gegeben. Aber der wirkliche
Grund war Patrick, das wusste Fabian sehr gut. Er wollte mit Patrick zusammen
sein. Und das würde er den anderen Jungs bestimmt nicht auf die Nase
binden.
Mittlerweile waren alle fünf Jungs in der Hütte in ihren Betten,
nur Fabian saß noch auf der Bettkante und wartete ab. Keiner der
Jungs machte Anstalten, hinüber zum Waschraum zu gehen und sich etwa
die Zähne zu putzen. Derartig lästige Dinge wurden einstimmig
schweigend ignoriert.
"Sollen wir das Licht ausmachen?" fragte Fabian in die Runde.
"Eigentlich müssten wir noch irgendwas... machen", sagte
der große, schwere Dan mit dem kurzgeschorenen Blondschopf.
"Irgendwas... machen?" fragte Fabian.
"Na ja, was man eben so macht, wenn man im Camp ist", brachte
Dan hervor.
Fabian schossen hunderte unanständige Sachen durch den Kopf, die
man in so einem Camp 'machen' konnte. Aber davon hätte er selber
nie etwas vorgeschlagen.
"Na, kommt schon", versuchte Dan etwas nachzuhelfen, "was
stellt man so an im Ferienlager?"
Fabian fragte: "Gruselgeschichten erzählen?"
"Nnnneeeiiiinnn!" jammerten die drei Kleineren.
"Dann kann ich nicht schlafen", sagte Julio.
"Eine Kissenschlacht?" schlug Mike vor, der ohne seine Brille
schon gar nicht mehr nach Streber aussah.
"Ach kommt schon, Leute", fuhr Dan dazwischen, "es muss
schon etwas mit mehr Pfeffer drin sein."
Fabian dachte bei sich, er wüsste eine Menge Sachen mit gehörig
'Pfeffer drin', zum Beispiel 'Blinde Kuh' im Dunkeln ohne Pyjamas.
Dan kam endlich zur Sache: "Lasst uns doch schmutzige Witze erzählen!"
Darauf wussten die Anderen erstmal keine Antwort. Julio strahlte zwar
erwartungsvoll, sagte aber nichts, und Mike kicherte schweinigelig.
Da sagte Fabian: "Kennst du denn schmutzige Witze?"
"Klar. Aber die erzähl ich nicht, wenn ihr nicht auch welche
wisst", entgegnete Dan.
Mike kringelte sich auf seinem Bett und kicherte immer schweinigeliger.
Das Thema schien ihm sehr zu gefallen. Der kleine Julio im Bett unter
ihm sagte plötzlich: "Ich weiß auch einen! Aber vielleicht
ist der nicht richtig schmutzig."
"Lass mal hören", sagte Dan.
Julio setzte sich in seinem Bett auf, um den Witz zu erzählen. Er
hatte einen bunten Kinderschlafanzug an. "Also,
wie ging der noch gleich? Also, zwei Indianerhäuptlinge sitzen zusammen.
Da sagt der eine: 'Ich habe vier Söhne' und er zeigt dem anderen
Häuptling vier Indianer-Jungs. Er zeigt auf den ersten und sagt:
'Das ist Schwarzer Büffel, denn ich habe ihn gezeugt, nachdem ich
einen schwarzen Büffel erlegte.'" Julio bemühte sich, die
tiefe Stimme eines Indianers nachzumachen. "Dann zeigt er auf den
zweiten und sagt: 'Das ist Schreiender Falke, denn ich habe ihn in einer
Nacht gezeugt, in der ein großer Falke schrie. Und das hier ist
Rollender Donner, denn ich habe ihn während eines Gewitters gezeugt.'
Und dann..." Julio musste kurz lachen, und Mike im Bett über
ihm quiekte schon fast, denn gleich kam die schmutzige Pointe. "...und
dann sagt der vierte Sohn: 'Wir alle haben Namen, die etwas mit unserer
Zeugung zu tun haben!' Da sagt der Häuptling: 'Das ist richtig, Geplatzter
Pariser!'" Julio und Mike kicherten, dass ihr Etagenbett wackelte.
"Nicht ganz neu, der Witz", sagte Dan, "aber immer noch
gut."
"Was ist eigentlich ein Pariser?" fragte Mike, der immer noch
über die Pointe kichern musste, obwohl er sie wahrscheinlich gar
nicht verstanden hatte.
"Oooh, bist du doof", rief Julio ziemlich laut und beinahe schrill,
"das sind die Gummidinger, die..."
"Achtung, da kommt Jemand!" rief Dan dazwischen, denn er hatte
Schritte draußen vor der Hütte gehört. Augenblicklich
legten sich alle hin und steckten ihre Beine unter die Decke.
Nach einem flüchtigen Anklopfen ging die Tür auf, und Brian,
der Gruppenleiter, steckte seinen Kopf herein. "Seid ihr alle im
Bett?"
"Ja", grummelten ein paar Jungenstimmen.
"Dann gute Nacht, Biber!" Seine dicke Hand griff zum Lichtschalter
und es wurde dunkel in der Hütte.
"Gute Nacht, Brian!"
Die Tür wurde geschlossen, und die Jungs hörten, wie Brian draußen
zur nächsten Hütte ging. Eine Weile blieben sie mucksmäuschenstill.
Dann sagte Mike im Dunkeln: "Bumsen!" und lachte prustend. Auch
Julios helle Stimme hörte man kichern.
"Das ist aber noch kein Witz, Mike", sagte Fabian.
"Sex nackt im Bett!" quiekte Julio und fand es unwahrscheinlich
lustig. Die beiden konnten sich schon damit amüsieren, schmutzige
Wörter laut zu sagen.
"Erzähl du uns doch einen Witz, Fabian", forderte Dan.
"Ich denke, du kennst selber so viele", entgegnete Fabian. "Außerdem
war es doch dein Vorschlag. Erzähl du doch einen!"
"He, Mike!" quiekte Julio, "weißt du, was passiert,
wenn man geil ist? Dann wird der Pimmel steif!"
Mike lachte quäkend, dass ihm fast die Luft wegblieb.
"Was ist eigentlich mit Pat?" fragte Dan. "Soll der doch
einen Witz erzählen!"
Im Bett unter Fabian blieb es still. Es war überhaupt schon die ganze
Nacht lang still dort, wie Fabian jetzt auffiel.
Dan setzte sich auf und fragte: "Pat! Hey, Pat! Schläfst du
schon?"
Keine Antwort.
Fabian beugte sich hinunter über die Bettkante und versuchte, im
matten Lichtschein des kleinen Fensters etwas zu erkennen. Patrick lag
regungslos in seinem Bett, aber Fabian glaubte, seine offenen Augen in
der Dunkelheit glänzen zu sehen. Obwohl er Patrick gar nicht richtig
sehen konnte, spürte er mit Gewissheit, das der rotblonde Junge irgendwie
eingeschüchtert war. Machte ihm das Gerede von schmutzigen Dingen
etwa Angst?
Fabian legte sich zurück in sein Bett und sagte an Dan gerichtet:
"Lass ihn, er schläft!"
Die Jungs kamen nun langsam zur Ruhe. Julio und Mike waren wohl bereits
die schmutzigen Wörter ausgegangen, und Dan erzählte ja doch
keinen seiner Witze. Überhaupt schien Dan, die anderen Jungs nur
provozieren zu wollen, 'schmutzige' Sachen zu sagen. Oder am Ende gar
zu tun. Obwohl das Fabian selbst sehr interessiert hätte, wenn er
ehrlich war. Aber er ging lieber nicht davon aus, dass alle Jungs so dachten.
Was würden sie von ihm denken, wenn er jetzt einen Vorschlag machte,
wie: "Lasst uns alle nackt ausziehen, im Dunkeln, und dann laufen
wir alle gleichzeitig los und tauschen die Betten, und wenn ein Bett schon
besetzt ist, dann ist das eben 'Pech', hehe!" Würden sie ihn
für ein Schwein halten? Für einen, der was von den Jungs will?
Nicht einmal bei Niklas und Jason war er sich sicher, dass sie jemals
solche 'schmutzigen' Sachen machen wollten. Sie hatten sich zwar darauf
geeinigt, dass Küssen und Umarmen bei ihnen erlaubt war, aber sie
hatten noch nie darüber gesprochen, was vielleicht danach kam. Niklas
war einfach der Ansicht, dass kleine Kinder sich ja auch küssten
und umarmten, und dass es in einem freien Land möglich sein müsste,
das auch noch zu machen, wenn man etwas größer wurde. Aber
ob auch das 'erlaubt' war, was Fabian immer wieder durch den Kopf ging
und ihm keine Ruhe ließ, das wusste er nicht. Am Ende war er vielleicht
der einzige Junge, der so etwas wirklich wollte?
Dass es ausgerechnet Patrick anscheinend Angst machte, betrübte ihn
am meisten. Er musste sich vorsehen, den schüchternen rotblonden
Jungen nicht zu verletzen.
Und schon halb im Schlaf fielen ihm noch die schelmischen Blicke von Angelo
ein. Seit sich das erste Mal ihre Blicke getroffen hatten, kam es Fabian
so vor, als läge ein besonderer Glanz in Angelos schönen, dunklen
Augen. Ein Glanz, der sagen sollte: Du bist es! Du und kein Anderer! Du
sollst mein Freund sein! Fabian drehte sich auf die Seite und seufzte
tief in sein Kissen. Von Angelo ließ sich gut träumen. Er hatte
so schöne, gebräunte Haut, so weiche, hellbraune Lippen, so
lange Beine... Angelo würde keine Angst davor haben, Angelo wusste,
was er wollte.
In der Nacht wurde Fabian für kurze Zeit wach, denn draußen
im Camp war ziemlicher Lärm. Jungenstimmen schrieen und lachten durcheinander,
Türen knallten, Gegenstände fielen scheppernd zu Boden. Manchmal
ebbte der Krach etwas ab, dann ging es wieder von vorne los. Dann brüllten
Männerstimmen dazwischen, sehr wütende Männerstimmen. Zuerst
war da Hank, und dann auch noch William, der Chef vom Camp.
Sie sorgten dafür, dass langsam wieder Ruhe im Camp einkehrte.
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