(Kleine Anmerkung zur deutschen Übersetzung:
Der Autor dieser Kurzgeschichte, Onslow, ist Engländer. Und die Geschichte
dreht sich unvermeidbar um englische Weihnachtsbräuche. Es hätte
keinen Sinn ergeben, diese in der Übersetzung an deutsche Bräuche
anzupassen.)
"Nein! Das ist nicht wahr! Du lügst!", schrie Martin.
Dann stampfte er mit seinem Fuß auf und gab Keith mit seiner ganzen
Kraft einen Stoß.
Keith wich zurück, mehr vor Schreck als von der Wucht von Martins
Stoß, und beobachtete mit offenem Mund, wie sich sein Freund umdrehte
und in eine Ecke seines Zimmers verzog. Keith war vollkommen überrumpelt
von der Reaktion seines Freundes auf etwas, das er leicht dahingesagt
hatte und das doch eigentlich jedem klar sein musste. Martin stand da,
gegen die Wand starrend, zitternd vor Erregung und schnaufend in seinem
Bemühen, sich zu beherrschen. Sein ganzer Rücken bewegte sich
dabei, wie er in großen Zügen die Luft einsog und hoffte,
damit seine Tränen zurückzuhalten.
"Aber Martin, ich sagte nur ..."
"Du bist ein Lügner, Keith Dillinger, und ich höre dir
gar nicht zu!", und er stampfte nochmals mit seinem Fuß auf,
während Keith seinen Mund auf und zu machte und nach Worten suchte,
die seinen Freund vielleicht besänftigen konnten.
"Aber jeder weiß doch, dass ..."
"Jeder weiß, dass es den Weihnachtsmann gibt, nur du nicht!",
und Martin stampfte wieder mit seinem Fuß und verschränkte
die Arme. Sogar von hinten konnte Keith sehen, wie sehr er die Zähne
zusammenbiss und sein Kinn vorschob.
Keith stand vollkommen verloren da. Er hätte nie gedacht, dass
Martin noch an den Weihnachtsmann glauben könnte. Es war doch so
offenkundig, dass es nur ein weiteres dieser albernen Märchen war,
die Erwachsene Kindern erzählten in dem Glauben, dass sie so leichtgläubig
oder dämlich waren, diese nicht sofort zu durchschauen. Und das
hatte er Martin gesagt und gehofft, ihn damit zum Lachen zu bringen,
über die Dummheit der Erwachsenen. Aber kaum dass er gesagt hatte
- "typisch Erwachsene, versuchen einen mit so einem lächerlichen
Märchen wie mit dem Weihnachtsmann dazu zu bringen, brav zu sein"
- verfinsterte sich Martins kleines Gesicht, und seine Augen funkelten
und sein ganzer Körper nahm eine Abwehrhaltung ein, sodass es Keith
überraschte und sogar ein wenig beeindruckte. Er hätte nie
gedacht, dass Martin zu solchem Zorn fähig sein würde.
Aber nun hatte er ein ziemliches Problem. Wie konnte er das nur wieder
gut machen?
Vorsichtig, als würde er sich einem wilden, aufgescheuchten Tier
nähern, schlich Keith zu seinem Freund und legte gefühlvoll
eine Hand auf seine Schulter. Martin schüttelte sie ab. Keith blieb
beharrlich und legte sie erneut auf. Martin versuchte wieder, sich loszureißen,
aber er konnte sich nicht weit genug nach vorn bewegen. Keith wartete
einen Moment, bis er die Körperwärme durch den Stoff des T-Shirts
spüren konnte, und versuchte es dann erneut, so sanft er konnte.

"Martin, bitte. Ich will nicht,
dass wir streiten".
Martin schniefte, sagte aber nichts.
"Ich wollte dich nicht verletzen, ich habe nur versucht, ein bisschen
witzig zu sein."
Martin riss sich los und ging ein paar Schritte an der Wand entlang -
seitwärts, als wollte er sein Gesicht vor seinem Freund verbergen.
Mit leicht erstickter Stimme entgegnete er: "War aber nicht witzig."
Keith biss sich auf die Lippen und verfluchte im Stillen seine große
Klappe. "So war es nicht gemeint. Ich wollte mich über die Erwachsenen
lustig machen, wie sie immer versuchen, uns mit einem Trick dazu zu bringen,
zu tun, was sie wollen, und immer glauben, dass wir darauf reinfallen."
Kaum hatte er dies gesagt, dachte er sich, es wäre das Falsche gewesen,
aber eigenartigerweise war es das nicht. Martin wandte sich ein Stück
um und lugte über die Schulter zu seinem Freund. Seine Augen waren
leicht gerötet, aber es gab keine Tränen. "Meine Mam versucht
nicht, mich auszutricksen, sie sagt mir immer die Wahrheit."
"Na ja, meine Mama tut das auch nicht", überlegte Keith,
"aber mein Stiefvater probiert sowas immer wieder. Der glaubt, ich
bin ein Idiot."
Martin drehte sich nun richtig um zu Keith, die Arme immer noch verschränkt.
"Also, hast du es nun wirklich so gemeint?"
Keith kam einen Schritt näher zu Martin, nahm vorsichtig seine Schultern
und schaute ihm gerade in die Augen: "Natürlich nicht. Ich würde
nichts sagen, was dich verletzt." Martin ließ sich nach vorne
fallen und vergrub sein Gesicht in Keiths Pullover und umarmte ihn innig.
"Du glaubst also doch, dass es den Weihnachtsmann gibt?", sagte
seine leicht gedämpfte Stimme. Keith schluckte seinen Stolz hinunter
und war nur froh, dass Martin nicht sein Gesicht sah: "Natürlich
gibt es ihn."
Martin seufzte und entspannte sich und ließ sich tiefer in Keiths
Arme sinken, und nach kurzer Zeit spielten sie wieder ausgelassen, und
ihr Streit war vergessen oder wurde zumindest nicht mehr erwähnt.
Für den Rest dieses Nachmittags spielten die beiden Jungs wie
immer Ritter und Könige, Zauberer und Feen. Allerdings, wie Keith
auffiel, nichts was mit Weihnachten zu tun gehabt hätte, und Martin
blieb ein klein wenig eingeschnappt, was man nur bemerkte, wenn man
ihn gut kannte. Aber trotzdem hatten sie Spaß und lachten viel
und balgten sich prima, und Keith fühlte sich gut. Und genauso
wie immer ging es ihm gegen den Strich, als Martins Mutter rief, dass
es langsam Zeit war für ihn heimzugehen.
Seufzend stand Keith vom Boden auf, wo die beiden Jungs
gelegen hatten - heiß und verschwitzt und gemeinsam selig schnaufend
- und streckte seine Hand aus, um seinem Freund auf die Beine zu helfen.
Dann ging er zur Tür.
"Warte," rief Martin, "ich habe eine Idee". Und
er führte Keith zu seinem Schreibtisch. Martin holte zwei Blätter
Papier und zwei Bleistifte hervor. "Ich weiß, wie wir beweisen
können, dass es Santa Claus gibt."
"Das brauchen wir nicht, ich hab dir doch gesagt, dass ich's auch
glaube."
"Ja, aber ich weiß, wie wir es beweisen können. Da,
nimm das Blatt." Er reichte Keith eines der Blätter und einen
der Bleistifte. Keith seufzte und nahm die Sachen an sich.
"Also schau, wir schreiben beide einen Brief an Santa Claus, wir
sagen ihm, was wir uns wirklich zu Weihnachten wünschen, die eine
Sache, die wir uns wirklich am meisten wünschen, und wir erzählen
das niemand anderem, nicht einmal uns gegenseitig, und dann schicken
wir ihn durch den Kamin. Wenn wir dann an Weihnachten bekommen, was
wir uns gewünscht haben, wissen wir, dass es nur Santa Claus gewesen
sein kann, weil er der einzige war, dem wir es gesagt haben."
Keith brauchte ein paar Sekunden, um nachzuvollziehen, was Martin da
vorgeschlagen hatte, und nachdem er es begriffen hatte, öffnete
er den Mund, um auf das offensichtliche Problem dabei hinzuweisen, aber
Martin war bereits eifrig dabei, auf seinem Blatt zu schreiben, die
Zunge seitlich zwischen die Lippen gesteckt und mit seinem Arm sorgsam
das Geschriebene verdeckend, so dass Keith nicht einmal das Blatt, geschweige
denn was darauf stand, sehen konnte. Irritiert beobachtete er eine Zeit
lang den Eifer seines kleinen Freundes und zuckte dann die Schultern.
"Was soll 's", dachte er sich, "ich schreibe einfach
irgendwas hin und schick es ab, und am Weihnachtstag nehme ich eines
meiner Geschenke und sage, das war's, was ich geschrieben habe, und
dann ist alles klar." Dann würde Martin zufrieden sein. Und
das würde eben auch Keith gefallen. Schweigend setzte er sich aufs
Bett und legte das Blatt auf den Nachttisch und den Bleistift dazu.
Was sollte er schreiben? Eigentlich spielte es keine Rolle - niemand
anderes würde es je lesen. Aber trotzdem sollte er irgendetwas
hinschreiben und jetzt fiel ihm plötzlich gar nichts ein, sein
Kopf war völlig leer. Nachdenklich kaute er am Ende seines Bleistiftes
(was ihm Martin bestimmt übel nehmen würde, da war er sich
sicher) und versuchte an irgendwas zu denken, etwas, das er schreiben
könnte. Aber ihm fiel einfach nichts ein.
"Na ja", überlegte er, "da es ohnehin nie jemand
zu sehen bekommen wird, könnte ich genausogut einen ganz geheimen
Wunsch aufschreiben." Nur, was zum Beispiel? Tja, er könnte
natürlich einige Teile für seinen Computer gebrauchen - der
war schon ziemlich klapprig und langsam und veraltet. Oder es gab tonnenweise
Spiele, die er nur zu gerne gehabt hätte. Aber nichts von dem war
so ein richtiger, ganz geheimer Wunsch. Keith wusste, was er sich wirklich
wünschte, schon seit Jahren wünschte, aber er wusste auch,
dass es etwas war, das für immer unerreichbar blieb. Aber trotzdem,
was soll's, niemand sonst würde es je lesen.
Und so schrieb er, sorgfältig verdeckt von seinem Arm: "Was
ich mir wirklich von ganzem Herzen wünsche, ist, meinen Vater wiederzusehen."
Er schaute einen Moment auf das Blatt, überrascht von dem Brennen
in seinen Augen, und schrieb dann schnell darunter: "Meinen RICHTIGEN
Vater." Anschließend faltete er es umständlich zusammen,
so dass das Geschriebene auch ja nicht zu sehen war, und drehte sich
um zu Martin.
"Okay, ich hab's aufgeschrieben. Wenn ich zuhause bin, schicke
ich es ab".
"Das geht so aber nicht", entgegnete Martin, "bei deiner
Oma gibt es nur eine Heizung, ihr habt keinen Kamin."
"Kein Problem, ich stecke ihn in einen Umschlag und schicke ihn
mit der Post."
"Nein, das taugt doch nichts, komm mit!" Und er packte Keiths
Hand und schleppte ihn aus dem Zimmer.
Martin führte den irritierten Keith aus dem Kinderzimmer die Treppe
hinunter und in das Wohnzimmer des aufgeräumten kleinen Hauses
seiner Eltern. Dort angekommen, machte er eine ausladende, theatralische
Geste in Richtung des warm flackernden Feuers im Kamin, der so ziemlich
das Erste gewesen war, was sie sich angeschafft hatten, als sie hier
eingezogen waren. "Ta-dah!"
Keith schaute unsicher. "Na, zu dumm, da brennt ein Feuer."
"Ja und?"
"Na ja, sobald wir die Briefe rein tun, fangen sie Feuer und verbrennen."
Aus dem Sessel hinter ihnen ertönte das Rascheln einer großen
Zeitung, und als sie sich umschauten, erschien Mr. Czirnczinskys Kopf
hinter einer Ecke davon. "Was macht ihr beide denn da?"
"Wir schreiben Briefe an Santa Claus", entgegnete Martin,
und brachte damit Keiths Gesicht zum Erröten.
"Ah ja, ... das ist euer gutes Recht", meinte Mr. Czirnczinsky
dazu, und sein Gesicht verschwand wieder hinter der Zeitung.
"Schau, so bekommt sie der Weihnachtsmann wirklich", sagte
Martin wieder an Keith gewandt. "Das ist das Geheimnis, du musst
sie in den Kamin stecken, wenn das Feuer brennt. Sonst gehen sie nicht
den Kamin hoch, sondern bleiben einfach nur in der Asche liegen."
Keith schüttelte den Kopf über diese Logik. "Aber andererseits,"
dachte er sich, "ist es wahrscheinlich besser so." Er begann
zu bereuen, seinen tiefsten Wunsch auf das Papier geschrieben zu haben,
besonders weil er es nicht mit Heim nehmen konnte, wo er sich sicher
sein konnte, dass es niemand anderer je sehen würde. Martin kniete
sich so nah er konnte an die polierte Steinfassung des Kamins und nahm
eine feierliche Haltung ein.
"Brief an Santa Claus!", rief er und dann warf er den Zettel
ins Feuer. Er wurde braun und fing an zu rauchen, dann entzündete
er sich und verschwand im Handumdrehen. Martin zog Keith näher
zu sich und bedeutete ihm, er solle das Gleiche machen. Keith war gerade
dabei, den Brief hineinzuwerfen, als Martin ihn aufhielt.
"Du musst sagen, für wen er ist! Wie soll er denn sonst wissen,
wo er hin muss?"
Obwohl er sich albern vorkam, folgte Keith dem Rat.
"Nachricht für Santa Claus!", rief er und warf dann das
Papier hinein. Ebenso wie das von Martin, rauchte es, wurde braun, rollte
sich an den Rändern zusammen, flammte auf und war verschwunden.
Keith schaute den kleinen Fetzen schwarzer Asche nach, die mit dem Rauch
nach oben stiegen, und fühlte wieder dieses eigenartige Brennen
in seinen Augen. Vielleicht hatte er sich eine Erkältung eingefangen.
Aus irgendeinem Grund schien er nicht in der Lage, sich vom Feuer zu
lösen, und so war es gut, dass Martins Mutter hinzukam und ungeduldig
seine Jacke in der Hand hielt.
"Na komm, deine Oma wird sicher schon warten, und du weisst doch,
wie schnell sie sich Sorgen macht, und es ist fast schon Zeit zum Abendessen.
Mir ist schleierhaft, was ihr die ganze Zeit so anstellt."
Keith hörte nicht auf die restlichen Worte von Mrs. Czirnczinsky,
sondern fühlte nur, wie ihr Klang ihn wie eine warme Brise durchströmte.
Obwohl er es - natürlich - niemals zugeben würde, mochte er
es, wenn Mrs. Czirnczinsky ihn so bemutterte. Seine Oma war irgendwie
zu tattrig und gebrechlich, und bei seiner Mutter stand immer etwas
zwischen ihnen (es hatte kleine Schweinsäuglein und Stirnfalten
und trug einen lächerlichen kleinen Schnurrbart). Und als ihn Mrs.
Czirnczinsky zur Tür gebracht und noch einmal fest in den Arm genommen
hatte und ihm über die Haare strich und ihm sagte, bald wiederzukommen
und dass er hier immer willkommen sei, und noch seinem Haar einen letzten
ordnenden Handgriff schenkte und ihm nachwinkte und ihm bis zur Ecke
nachsah, war dieses brennende Gefühl in seinen Augen weggewischt
von ihrer mütterlichen Fürsorge.
Keith lächelte ein bisschen in sich hinein, während er durch
die leeren Straßen ging und dachte an Martins Brief an Santa Claus.
"Es wäre so schön", dachte er, "wenn es wirklich
funktionierte."
Und er seufzte.
Was man nun über Weihnachten wissen muss, also die eine Sache,
die man wirklich unbedingt wissen muss, und was alle Kinder mit jeder
Faser ihres Daseins spüren, ist, dass es nie soweit ist.
Egal wieviele Tage vergehen, egal wieviele Türchen am Adventskalender
geöffnet wurden, egal wie sehr du ihn herbeisehnst, der Tag selbst
kommt nie. Er ist immer vor dir in der Zukunft, er rückt immer
näher, aber er ist niemals da. Und je näher er rückt,
desto langsamer und zäher wird es, fast so, als ob er es sich nochmal
anders überlegen wollte und in die ferne Zukunft verschwinden würde.
Und dann, plötzlich, auf wunderbare Weise ist eines Tages Heiligabend,
und die Uhren scheinen langsamer und immer langsamer zu ticken, während
du dich durch den Tag schleppst und die Bewegungen des Sekundenzeigers
verfolgst. Der Tag fließt träge dahin, von der trüben
Helligkeit am Mittag bis zum Dunkelwerden, wenn das Fernsehprogramm
es nicht schafft, dich vom immer langsamer werdenden Sekundenzeiger
abzulenken, bis du zu einer völlig ungerechtfertigt frühen
Stunde ins Bett geschickt wirst. Und dort liegst du dann, wälzt
dich hin und her und schaust alle paar Sekunden wieder auf die unbewegliche
Uhr. Und dann, plötzlich ist Tageslicht da, das scheu durch die
Vorhänge blinzelt, und ein paar mutige Vögel zwitschern unverzagt,
und es ist Weihnachten, endlich Weihnachten!
Aber so weit war es noch nicht, als Keith ruhelos im Bett lag, viel
zu früh am Heiligabend. Er war daheim bei seiner Mutter, und der
zerbrechliche weihnachtliche Waffenstillstand schien auch in diesem
Jahr wieder zu halten. Bis jetzt. Während er sich hin und her wälzte,
abwechselnd die Decke enger zog und sie dann wieder lockerte, konnte
er die Schritte seiner Mutter und seines Stiefvaters hören, wie
sie unten im Wohnzimmer umher gingen. Sie legten, wie er ohnehin wusste,
für den Morgen Geschenke unter den alibihaften Plastik-Weihnachtsbaum.
Keith würde am Morgen hinuntergehen und Überraschung und Freude
vorspielen, sein Stiefvater würde sich zu einem Grinsen zwingen
und sagen, "ich glaube, Santa Claus war in der Nacht da",
und Keith würde so tun, als ob er das glaubte.
Mal ehrlich, hielten die ihn immer noch für ein Kleinkind? Keith
glaubte, um die Wahrheit zu sagen, dass seine Mutter wusste, dass er
zu alt für dieses Weihnachtsspielchen war, aber sie machte damit
weiter aus dem gleichen Grund, aus dem Keith weiter mitspielte. Er hatte
so wenige glückliche Erinnerungen an Weihnachten mit seinem echten
Vater, dass er nicht riskieren wollte, sie durch irgendwelchen Streit
an diesem Tag zu verderben.
Da ertönte ein etwas lauteres Poltern von unten und ein gedämpftes
Wort, das Keith nicht verstand, sich aber denken konnte, was es war.
Er drehte sich wieder um, zog seine Decke straff über die Schulter
und spürte, wie sie sich um ihn schnürte, weil sie unter seiner
Hüfte eingeklemmt war. Er überlegte, was er wohl zu Weihnachten
bekommen würde.
Keith hatte immer wieder unterschwellige Andeutungen fallen lassen,
was er gerne haben würde, aber sie alle hatten in irgendeiner Weise
mit seinem Computer zu tun gehabt, und aus irgendwelchen Gründen
schien sein Stiefvater gegen diesen zu sein. Keith hatte einmal eine
Diskussion' zwischen seiner Mutter und seinem Stiefvater belauscht,
darüber dass er sein Leben mit dieser dämlichen Kiste
vergeudet' und dass Kinder frische Luft und Bewegung brauchen'
und wie ungesund es ist, stundenlang auf diesen elenden Bildschirm
zu starren und alberne Spiele zu spielen'. Zum Glück konnte dieser
Mann nichts dagegen tun, da es SEIN Computer war und darüberhinaus
bei seiner Oma stand, die froh war, wenn er sich still damit beschäftigte.
Keith starrte ins Leere während er überlegte, was er wohl
bekommen würde.
Das schlimmste an diesen frühen Heiligabend-Nächten ist, überlegte
Keith, dass man wirklich schlafen möchte, aber nicht kann. Natürlich
weiß man, je eher man einschläft, desto eher wird man aufwachen
(und seine Geschenke bekommen), aber es war zu früh, um dies zu
bewerkstelligen. Und am allerschlimmsten ist, dass der Körper versucht
zu schlafen, er erwartet jetzt zu schlafen. Also, du liegst im Bett
und dein Körper sagt Bett? - Zeit zum Schlafen' aber dein
Verstand sagt warte noch, es ist noch viel zu früh!'. Und
so liegt man schließlich hellwach in seinem eigenen halb schlafenden
Körper.
Keith versuchte, sich noch weiter umzudrehen, aber die straffe Decke,
auf der er teilweise lag, hinderte ihn daran. Er gab ihr einen wütenden
Ruck und konnte sich schließlich auf den Bauch drehen.
Manchmal wünschte sich Keith, er könnte sein wie Martin, unschuldig,
vertrauensselig, leichtgläubig. Dann könnte er einschlafen
und überzeugt sein, dass Santa Claus' ihm die Grafikkarte
bringen würde, die er so gern haben wollte. Oder zumindest ein
ordentliches Spiel. Allerdings, überlegte Keith, je mehr man erwartet,
desto mehr ist man enttäuscht, wenn es nicht dabei ist. Er begann
sich zu fragen, was er sich wohl von Santa Claus gewünscht hätte,
wenn er an ihn glauben würde, und verzog sein Gesicht, als ihm
wieder das blöde Blatt Papier einfiel, dass ihn Martin schreiben
ließ. Er war froh, dass der Zettel verbrannt war. Er wäre
vor Peinlichkeit gestorben, wenn irgendwer gesehen hätte, was er
geschrieben hatte. Keith drehte sich auf den Rücken und starrte
missmutig an die Decke. Und trotzdem, überlegte er, wenn man wusste,
dass der Wunsch sowieso nicht wahr werden konnte, warum sollte man sich
dann nicht etwas Unmögliches wünschen.
Keiths Vater hatte diese Zimmerdecke gestrichen. Sein richtiger Vater.
Es war kurz nachdem sie eingezogen waren. Keith konnte damals kaum älter
als ein paar Jahre gewesen sein, aber er konnte sich noch genau daran
erinnern. Er hatte in der Tür gestanden und zu seinem Vater hochgesehen,
der auf einer Stehleiter stand, seine Haare von winzigen Tröpfchen
weißer Farbe gesprenkelt, und Keith hatte gelacht und gesagt:
"Papa, du bist alt geworden!" Und sein Vater hatte ihn mit
dem Farbroller in der Hand lachend durchs ganze Haus gejagt und gedroht,
ihn in einen alten Mann zu verwandeln, bis seine Mutter ebenfalls lachend
mit einem Geschirrtuch dazwischen gegangen war und ihnen gesagt hatte,
sie sollten sich sauber machen, es wäre Zeit zum Abendessen. Es
schien ihm, als hätte seine Mutter damals immer gelacht.
Keith drehte sich auf die Seite und rollte sich zu einer Kugel zusammen,
die Knie bis zur Brust angezogen und die Hände unterhalb des Kinns
zusammengefaltet. Keiths Augen waren schmerzend schwer und schienen
voller Sand zu sein, denn sein Körper versuchte zu schlafen. "Hah!",
dachte Keith, "das Sandmännchen war da. Aber es hat's versemmelt."
Sein Kopf war hellwach, und seine Gedanken kreisten unvermindert.
Keith überlegte, ob er jemals an Santa Claus glauben könnte,
wirklich glauben, nicht nur vortäuschen. Er überlegte, ob
er überhaupt jemals an ihn geglaubt hatte, so wie es Martin tat.
Vielleicht, als er ein kleines Kind gewesen war, als sein richtiger
Vater noch gelebt hatte. Keiths Augen schmerzten nun. Er schloss sie
und starrte in die Dunkelheit hinter den Lidern.
Die Wahrheit war, es war alles nur ein Schwindel, Santa Claus und das
Sandmännchen und Gott und all das. Die ganze Welt dreht sich nur
ums Nehmen, nicht ums Geben, sie nimmt von dir und kümmert sich
nicht darum, wie du dich dabei fühlst. Es hatte eine Zeit gegeben,
da war es besser gewesen, da schien es, als würde er immer die
Geschenke kriegen, die er wollte. Eine Zeit, in der das Öffnen
der Geschenke eine echte Überraschung und Freude war, nicht nur
ein Schauspiel. Keith beobachtete, wie seine Augen in der Dunkelheit
hinter den Lidern kreisten, sein Körper schwebte schwerelos in
der Zeit.
Da war Mr. Twoshoes, dachte Keith benommen. Er erinnerte sich an aufgeregte
kleine Finger, die unbeholfen das bunt gemusterte Geschenkpapier ergriffen,
einen Schneemann zur Seite rissen und sich hinter einen mit Tesafilm
verklebten Christbaum gruben, um ein braunes, bepelztes Gesicht mit
zwei lustigen Augen freizulegen. Nachdem er das restliche Papier heruntergerissen
hatte, sah er einen wunderschönen großen Bären, fast
zu groß für eine Umarmung seiner kleinen Hände, in eine
Art Smoking mit einer goldenen Schärpe gekleidet und mit zwei glänzenden
schwarzen Schuhen. Keith drückte den riesigen Bären fest an
sich und drehte sich, um seinen Vater freudig anzustrahlen.
Aber als er sich umdrehte, fiel er nach hinten, und fiel, schwerelos
und verloren in die Dunkelheit eines leeren Ortes. Da waren keine Christbäume
mehr und keine Schneemänner, kein bunt bedrucktes Papier und kein
Vater. Er war allein, fallend, mit rollenden Tränen, und an den
alten, verschlissenen Bären geklammert.
"Bitte!" schrie er, die Worte hallten nach in der Leere, ohne
eine Hoffnung darauf, gehört zu werden.
Aber der Bär hörte ihn, Mr. Twoshoes. Er hob sein braunes
Fellgesicht und zwinkerte mit seinem schwarzen Plastikauge, und irgendwie
schien er mit seinem aufgenähten Gesicht zu lächeln. Dann
wand er sich aus Keiths Umklammerung und umkreiste ihn und lächelte
die ganze Zeit. Dann flog er nach oben, nahm im Vorbeifliegen Keiths
Hand und zog ihn mit sich mit. Sie gewannen an Tempo, und da war der
Geruch von Tannenzweigen und ein Licht, das plötzlich heller wurde.
Es gab wieder Tageslicht, und Lachen, und eine winterliche Morgensonne
fiel diffus durch das Wohnzimmerfenster auf die Äste eines gewaltigen
Weihnachtsbaumes. Unter dem Baum kämpfte ein glücklicher kleiner
Junge mit einem Paket, das fast so groß war, wie er selbst, seine
Patschehändchen rissen unbeholfen an dem bunt gemusterten Papier.
Keith wollte beinahe hinzueilen, um dem kleinen Jungen zu helfen, aber
der Bär hielt ihn an der Hand zurück. Sein Schweigen schien
zu bedeuten: "Warte." Die Finger des Jungen tasteten über
das Paket und suchten einen Ansatzpunkt. Plötzlich fand er eine
Falte im Papier, zog ungeduldig daran und riss mit einem erlösenden
Geräusch eine große Lücke hinein. Er fand eine weitere
Falte und zog daran und enthüllte das pelzige, braune Gesicht und
die blinkenden schwarzen Augen eines riesigen Teddybären. Hastig
riss der kleine Junge das restliche Papier herunter und schaute voller
Freude auf den Bären - fast genauso groß wie er und gekleidet
in einen Abendanzug und zwei glänzende, schwarze Schuhe. Der Junge
hüpfte und lachte und umklammerte den Bären und wandte sich
dann um und rief: "Schau Pappi! Mr. Twoshoes!" und hielt einen
der beschuhten Füße des Bären als Beweis hoch.
Langsam, er traute sich fast nicht zu atmen, drehte sich Keith, um den
Mann zu sehen, mit dem der Junge gesprochen hatte.
Es war Keiths Vater. Nicht wie ihn Keith zuletzt gesehen hatte, schmerzgebeugt
in einem Krankenhausbett liegend, sondern stark und gesund und gebräunt.
So wie er war, bevor die Krankheit ihm seine Kraft genommen hatte.
Tränen quollen in Keiths Augen und er fühlte einen Kloß
in seiner Kehle.
Keith erwachte benommen, ein Kissen an sich gedrückt, nass von
den Tränen, die noch immer über sein Gesicht rannen. Er schluchzte
einmal und wischte sich die Feuchtigkeit von seinen Wangen und fühlte
eine große Leere in sich. Er schob das Kissen zur Seite und setzte
sich auf, während er krampfhaft versuchte, das Ende des Traums
festzuhalten. Aber je mehr er es versuchte, desto weiter schien es sich
von ihm zu entfernen.
Schließlich stand er mit einem Seufzen vom Bett auf und ging zum
Fenster. Während er die Vorhänge aufzog, schaute er hinaus
auf die Straße. Die frühe Morgensonne, die diffus durch die
hohen Schleierwolken sickerte, gab in Verbindung mit der frühen
Stunde der Welt eine Stille, die zu der Leere seiner Gefühle zu
passen schien. Was war das für ein Traum gewesen? Er konnte sich
nur noch an das großartige Gefühl von Liebe und Geborgenheit
erinnern. Und aus irgendeinem Grund an einen Teddybären.
Verwundert runzelte er die Stirn, als er vorsichtig, um jedes Quietschen
zu vermeiden, die Tür des Wandschranks öffnete, und kramte
in dem großen Karton, der darin stand. Schließlich zog er
aus der Tiefe des Kartons einen alten abgetragenen Teddybären hervor.
Mr. Twoshoes, schäbig gekleidet und lange Zeit missachtet, der
Abendanzug ramponiert und ausgefranst, und seine Schuhe abgewetzt und
stumpf. Keith starrte ihn eine ganze Zeit nachdenklich an. Ja, Mr. Twoshoes
war dagewesen. Langsam kam der Traum wieder zurück, und unbewusst,
tief in Gedanken versunken, nahm Keith den alten Bären in seine
Arme und drückte ihn fest an sich.
Es war am folgenden Abend, am Ende des ersten Weihnachtstages, und
Martin hatte ein Glas Sherry und ein Teller mit Pfefferminzplätzchen
für Santa Claus hinausgestellt, bevor er sich in das weiche, alte
Sofa hineinkuschelte. Die Leute lachten immer, wenn Martin erzählte,
dass er Sherry und Kekse am Weihnachtstag statt an Heiligabend hinausstellte.
Aber Martin lächelte dazu nur und erklärte: "Santa Claus
kann an Heiligabend nichts trinken, da muss er noch fahren." Es
war warm und gemütlich und Martin wusste, dass er bald einschlafen
würde, aber das machte nichts. Martin schloss die Augen und ließ
sich bald ins Reich der Träume gleiten.
Martin wurde geweckt von dem leichten Kitzeln eines feinen schneeweißen
Bartes und dem Grollen eines kaum unterdrückten "Ho ho ho".
Von den Minzplätzchen waren nur mehr Krümel übrig, das
Glas Sherry war geleert, und dicke, warme Arme hielten ihn sicher. Martin
kuschelte sich enger an den großen warmen Körper und schaute
auf zu den strahlend blauen Augen, die zu ihm hinunter lächelten.
Martin lächelte zurück.
"Na also, Kleiner", lächelte Santa Claus, "du kannst
dich also noch an mich erinnern."
"Noch immer", seufzte Martin glücklich.
Santa Claus gluckste, dass sich sein riesiger Bauch bewegte. "Nicht
für immer, Kleiner. Auch kleine Jungs werden einmal Männer,
und Männer vergessen mich."
"Aber ich nicht! Ich werde nie vergessen, dass es dich gibt!"
"Aber du musst groß werden, wie sollte es sonst dazu kommen,
dass es immer wieder kleine Buben gibt, die an mich glauben? Aber denk
immer daran, tief im Innern jedes Erwachsenen steckt ein kleines Kind,
das sich erinnern kann." Und der alte Mann lächelte noch breiter.
Martin stützte sich auf Santa Claus' ausladenden Bauch. "Hast
du den Brief bekommen, den ich dir geschickt habe?"
In der Art eines Zauberers, der ein besonders schönes Kaninchen
aus dem Hut holt, zog Santa Claus ein gefaltetes und zerknittertes Blatt
Papier hervor und begann zu lesen.
"Lieber Santa Claus, vergiss bitte all die Dinge, um die ich dich
gebeten habe; alles, was ich mir für Weihnachten wünsche,
ist, dass du den Wunsch meines Freundes Keith erfüllst. Dein Martin
Czirnczinsky". Santa Claus lächelte wieder: "Ja, ich
habe ihn bekommen. Es ist immer schön, wenn jemand um etwas Uneigennütziges
bittet."
"Und, hast du ... ", Martin deutete auf das Blatt.
"Tja, manche Wünsche sind schwieriger als andere, aber ich
denke, ich habe es hinbekommen. Ja, ich glaube wirklich, das habe ich
geschafft. Und jetzt ist es langsam Zeit für mich zu gehen, Mrs.
Claus muss jeden Moment mit dem Schlitten hier sein. Du solltest jetzt
wieder schlafen.
Martin seufzte und sank zurück in Santa Claus' Arme. Er wusste,
dass, wenn er aufwachte, es nur eines der großen weichen Kissen
seiner Mutter war, das er in den Armen hielt. Und er wusste, wenn er
seinen Eltern davon erzählte, dass er Santa Claus getroffen hatte,
dass sie nur lächeln und nicken würden.
Aber ganz tief im Innern wusste er, dass es immer einen kleinen Jungen
und ein kleines Mädchen geben würde, die fest an den Weihnachtsmann
glaubten.
Und das war sein schönstes Weihnachtsgeschenk.
