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Mein bester Freund hieß Daniel.
Er mochte seinen Namen nicht, genauso wie ich meinen nicht mochte. Ich
heiße Markus.
"Daniel - sowas denken sich Kaffeetanten aus", sagte er.
"Wie würdest du dich denn selber nennen?" fragte ich.
Er hob die Schultern. "Weiß nicht. Keine Ahnung."
"Also ich würde lieber Steve heißen. Steve Lord."
Ja, das war ein guter Name. Damit könnte man Filmstar werden, oder
Rockstar... auf jeden Fall war der Name cool.
"Wieso?" fragte Daniel. "Markus ist doch okay. Laß
dich doch Mark nennen, das ist doch auch cool."
"Mich nennt aber keiner 'Mark'. Ich kriege einfach keinen Spitznamen."
Nun hob auch ich die Schultern. Wir schauten uns an. Eigentlich waren
unsere Namen ganz unwichtig. Wenn wir zusammen spielten, hatten wir eh
immer andere Rollen, wir spielten nie uns selbst mit unseren richtigen
Namen.
Und Daniel war für mich einfach Daniel. Der Name passte sehr gut
zu ihm. Ich muss immer an einen Jungen wie ihn denken, wenn ich den Namen
Daniel höre, einen Jungen mit rötlich-braunen Haaren und einer
ganz leicht pummeligen Figur. Er war nicht richtig pummelig, aber wenn
ich wütend auf ihn war, behauptete ich, er sei fett. In unserer Klasse
gab es dicke Mädchen aber keinen dicken Jungen, und so hatte Daniel
die undankbare Position, der "dickste" zu sein.
Wenn Daniel sich rächen wollte, machte er sich lustig über meine
langen Haare. Natürlich waren meine Haare auch nicht richtig lang,
nur eben ein bißchen länger als bei anderen Jungs. Daniel sagte
dann, ich hätte ja keinen Haarschnitt, nicht einmal eine 'Frisur'.
Was er hätte, das wäre ein Haarschnitt. Bei mir hätte niemand
was geschnitten. Überhaupt sähe ich damit aus wie ein Mädchen.
Also behauptete ich, er sei fett, und Daniel behauptete, ich sähe
aus wie ein Mädchen. Wir haben immer vollkommen daneben gelegen.
So wie alle Jungs in diesem Alter.
Jahre
später habe ich mir die Mühe gemacht, die Hitparadenmusik aus
dieser Zeit zusammenzusuchen und auf Cassette aufzunehmen. Ich habe Plattenläden
durchwühlt und eine ganze Menge Geld ausgegeben, nur um die Hits
nochmal zu hören und mich zu erinnern. Als ich die Musik abspielte,
sagte unser gemeinsamer Freund Chris, 'oh nein, hör auf damit! Das
war eine beschissene Zeit!' Wie Daniel und ich hatte auch er immer voll
daneben gelegen und das war ihm wohl immer noch peinlich.
Aber ich erinnerte mich gern. Auch wenn so vieles peinlich gewesen war,
war es für mich eine sehr schöne Zeit gewesen, eine Zeit mit
einem ganz besonderen Gefühl. Und ich wollte dieses Gefühl nie
vergessen.
Daniel lächelte unsicher und sagte, 'ist okay, laß die Musik
hören'. Und er erinnerte sich an jeden Song. Wir hatten gerne zusammen
Musik gehört, meistens Songs, die wir aus den Radiohitparaden auf
Cassette aufgenommen hatten. Wir spielten uns gegenseitig unsere Favoriten
vor, und auch wenn Daniel einen anderen Geschmack hatte als ich, waren
wir uns meistens einig, dass man die Musik, die die Mädchen toll
fanden, nicht anhören konnte. Wir liebten beeindruckende Rockbands,
und irgendwelche Modegruppen mit gestylten Bubis waren uns ein Greuel.
Wie gesagt, ich wollte und will dieses Gefühl nie vergessen. Und
so kommt es, dass ich es noch immer genauestens beschreiben kann.
Ich war in die fünfte Klasse ins Gymnasium gekommen und kannte niemanden.
Daniel fiel mir monatelang nicht auf, so wie er jedem nicht auffiel. Ich
verknallte mich heimlich in ein Mädchen aus der Klasse, dann in ein
anderes, sprach aber nie mit diesen Mädchen. So wie es eben alle
Zehnjährigen tun. Irgendwann redeten Daniel und ich in der Pause,
und in der nächsten Pause wieder, und auch am nächsten Tag,
und irgendwann ging ich nach der Schule mit ihm nach Haus, um zu sehen
wo er wohnt, und später kam auch er mit mir nach Haus, und obwohl
wir es zu keinem bestimmten Zeitpunkt wirklich feststellten, war klar,
daß wir Freunde waren.
Wir waren in das gleiche Mädchen verknallt. Das war überhaupt
kein Problem, da wir eh keinen Mut hatten, auch nur mit dem Mädchen
zu reden. Wir beide waren vollkommen ehrlich zueinander, wir malten uns
gegenseitig aus, welche Abenteuer wir erleben könnten, nur um sie
am Ende küssen zu dürfen. Denn eins war klar, sie würde
niemals einen von uns küssen, nur weil wir nett waren. Wir mussten
sie aus irgendeiner Gefahr retten. Mädchen küssten nur Helden,
aber keine gewöhnlichen Fünftklässler, die noch mit Lego
spielten.
Dieses Mädchen zu küssen, war mein größter Traum
--- oder zumindest der zweitgrößte, direkt nach einer Weltraumreise
zu entfernten Planeten. Ich habe tatsächlich geträumt, wie ich
sie küsste, und dieser Traum wurde so aufregend, dass ich ihn für
vollkommen echt hielt und davon aufwachte. Ich konnte lange tagträumen
und mir ausmalen, wie es endlich zu einer Situation kam, in der wir zwei
allein waren und sich beinahe zufällig unsere Lippen berührten.
Und diese Tagträume erzählte ich dann Daniel, und er erzählte
mir seine Tagträume. Es war toll. Wir dachten überhaupt nicht
an Eifersucht, es war, als ob wir sie beide gleichzeitig küssen könnten.
Wir wurden elf Jahre alt, kamen in die sechste Klasse und waren immer
noch verknallt in dieses Mädchen. Selbst Chris sagte, er fände
dieses Mädchen toll und er wolle sie auch küssen. Daniel und
ich grinsten, "Willkommen im Club". Aber Chris fuhr wahrhaftig
mit seinem Fahrrad zu ihr nach Hause und klingelte und fragte nach ihr!
"Sowas von unfair!" sagten Daniel und ich. Zum Glück war
das Mädchen gar nicht zu Haus, und sie schien Chris auch sonst nicht
zu beachten. Sie war mit ihren Freundinnen beschäftigt. So wie wir
mit uns beschäftigt waren und auch gar nicht gewusst hätten,
worüber wir mit ihr reden sollten.
Eines Morgens lag ich noch im Halbschlaf und dachte mir etwas aus. Es
war etwas ziemlich merkwürdiges mit einer Wiese und zwei jungen Frauen
mit großen Brüsten, und den Frauen wurde es zu heiß und
sie zogen sich halb aus und dann mussten wir irgendwo raufklettern und
ich sah immer nur diese Brüste und sie drehten sich um mich, und
ich wälzte mich hin und her, und plötzlich durchströmte
mich ein warmer Schauer und mein Herz pochte und ich fühlte mich
unglaublich gut. Am meisten war ich durch die Stärke dieses Gefühls
überwältigt. So viel auf einmal hatte ich überhaupt noch
nie gefühlt, und ich hätte nicht gedacht, dass ich ich zu so
etwas fähig wäre. Es war noch toller als bei dem Traum mit dem
Kuss, und es schien alles so echt zu sein.
Als das Gefühl nachließ, wurde ich richtig wach und bemerkte
etwas Feuchtes in meiner Pyjamahose. Es war ein kleiner Fleck, ein weißliches,
seifiges Zeug, dass nach nichts besonderem roch. Es war offenbar aus meinem
Pimmel gekommen, aber es war etwas völlig neues.
Ich hatte so einen Verdacht und fühlte mich merkwürdig.
Es dauerte zwei oder drei Monate, bis ich wieder so einen feuchten Traum
hatte. Und bald fand ich heraus, wie ich dieses tolle Gefühl und
das seifige Zeug immer wieder bekommen konnte. Ich lag dazu im Bett auf
dem Bauch und bewegte meinen Unterleib so dass sich mein Pimmel an der
Matratze rieb. Und dazu dachte ich an nackte Mädchen.
Dummerweise hinterließ das seifige Zeug immer einen Fleck. Im Bettzeug
konnte man ihn nicht so leicht sehen, weil er weiß war, aber er
wurde rauh und man konnte ihn fühlen.
Ich dachte mir, das darf niemand wissen, dass ich so einen Schweinkram
machte, und fand einen Weg, die Flecken zu verstecken. Ich ließ
einfach ein paar alte Unterhemden verschwinden, in meinem Schrank, hinter
Comicheften und Spielzeug. Und immer, wenn ich Lust hatte, holte ich eines
der Unterhemden hervor und legte es unter mich.
Und ich hatte immer öfter Lust.
Die Unterhemden sahen nach einer Weile ziemlich scheußlich aus.
Daniel durfte bei mir übernachten. Es war kaum zu glauben, wie kompliziert
er das machte! Er hätte am liebsten sein halbes Kinderzimmer mitgenommen,
weil er sonst nicht schlafen könne. Am Ende schleppte er zwei Stofftiere,
sein Kopfkissen, Zahnbürste und Zahnputzbecher, seine Zahnpasta,
Handtücher, Seife und einen Schlafanzug mit sich. Ich nahm mir vor,
dass mir eine Zahnbürste genügen würde, sollte ich jemals
bei ihm übernachten. Ich verstand gar nicht, warum unsere Eltern
nur darüber lachten. Ich fand Daniel furchtbar kindisch für
sein Alter.
Meine Mutter brachte uns zu Bett und sorgte damit auch gleich dafür,
dass wir nicht die halbe Nacht aufblieben. Meine Mutter war eine "richtige
Mutti", sie war ein bißchen dick, wirkte so als könne
sie gut kochen und putzen, und sie mochte Kinder. Mich griff sie sich,
wann immer ich in der Nähe war, knuddelte meine Backen und küsste
mich, auch wenn ich mich wehrte. Und auch Daniel griff sie sich und knuddelte
ihn. Aber am peinlichsten war, dass sie ihm sogar Kosenamen gab! Daniel
grinste dabei irgendwie geschmeichelt.
Seine Mutter war schlank und elegant und rauchte. Ihr Haushalt war ordentlicher
als unserer, obwohl ich sie mir nicht vorstellen konnte, wie sie wischte
und schrubbte. Sie sprach leise und zurückhaltend mit Daniel, immer
sanft und kaum aus der Ruhe zu bringen. Aber ich sah sie nie ihr Kind
knuddeln und küssen.
Daniel und ich redeten noch eine ganze Weile im dunkeln. Daniel klang,
als hätte er ein bißchen Heimweh, und ich machte mich darüber
lustig.
"Ist ja gut", murmelte er in der Dunkelheit. "Wir wissen,
dass du in allem besser bist."
Das kapierte ich nicht. "Wieso denn 'besser'? Ich bin vielleicht
normal, und du bist komisch."
"Haha, du und normal! Dass ich nicht lache! Was ist denn an dir normal?"
Ich dachte kurz nach. "Na, zum Beispiel, dass ich nicht mein Kopfkissen
brauche, um woanders zu schlafen. Und auch keine Stofftiere."
Daniel schwieg, und erst nach einer ganzen Weile sagte er: "Vergiß
es."
In der Nacht machte er ziemlich viele Geräusche, atmete laut, bewegte
sich, murmelte etwas im Schlaf und machte leicht schmatzende Geräusche
mit den Lippen. Jedenfalls schlief ich dadurch auch nicht gut.
Wir wurden recht früh wach, lange vor meinen Eltern. Wir blieben
in meinem Zimmer und alberten herum, sprangen im Schlafanzug von Bett
zu Bett und blieben schließlich in meinem Bett sitzen.
Daniel schien nicht zu bemerken, dass er auf meinem Fuß saß.
Mein Fuß war halb unter der Decke, aber er musste ihn eigentlich
spüren. Ich spürte ihn jedenfalls sehr deutlich, trotz der Decke
zwischen uns. Meine Zehen konnten genau seine kleinen Weichteile erfühlen,
er drückte sie sich beim Sitzen fast platt, so wenig Widerstand boten
sie. Wir redeten einfach weiter, als wäre nichts. Ich bewegte ein
wenig meinen Fuß, so dass er es einfach spüren musste. Aber
er blieb sitzen.
Mir schoss durch den Kopf, dass es ihm vielleicht gefiel, so berührt
zu werden. Und ich dachte mir, dass es mir eigentlich auch gefallen würde,
und ich wunderte mich, warum wir uns das nicht sagten. Aber wir redeten
von etwas Anderem. Und irgendwann stand Daniel auf und beendete diesen
spannenden Moment.
Bis zu diesem frühen Morgen war mir Daniels Körper völlig
egal gewesen, außer dass ich ihn als fett bezeichnete, um ihn zu
ärgern. Aber etwas Interessantes hatte ich nie an ihm gefunden. Von
diesem Morgen an war ich aufgeregt und neugierig. Es ging mir nicht aus
dem Kopf, dass Daniel es mochte, so berührt zu werden. Und dass ich
es auch mochte.
Beim nächsten Schwimmengehen betrachtete ich Daniel genauer als jemals
vorher. Er war nicht wirklich pummelig, er wirkte nur weicher. Seine Schultern
und Knie waren runder als meine, in ihrer Form weniger von den Knochen
bestimmt. Sein Bauch war ein winziges bißchen vorgewölbt, und
sein Hintern war rund und prall. Und später beim Abtrocknen in der
Umkleide konnte ich auch einen kurzen Blick auf seinen Pimmel erheischen,
ein ganz normaler, kleiner Pimmel.
Ich war mir ziemlich sicher, dass Daniel bemerkte, wie ich ihn neuerdings
anstarrte, aber er ließ sich nichts anmerken. Er starrte mich jedenfalls
nie so an.
Mir ging das nicht mehr aus dem Kopf. Seit sich Daniel auf meinen Fuß
gesetzt hatte, war mein Leben erheblich komplizierter geworden. Von all
den Dingen, die mir bis dahin passiert waren, hatte ich vorher schon gehört.
Eben, was man Kindern so als "Aufklärung" erzählt.
Ich fand zwar, es wäre mir alles zu früh passiert, so dass es
niemand herausfinden dürfte, aber es war alles "normal".
Ich hatte Samenergüsse und dachte dabei an Mädchen. Ich war
verknallt in Mädchen. Und jetzt musste ich dauernd an Daniel denken,
wie er auf meinem Fuß saß, und ich seine Weichteile befühlte,
und es ihm gefiel, und wie es mir gefiel.
Meine
Güte, ich war 11 1/2 Jahre alt und hatte kaum eine Ahnung von Sex.
Sowas machten Männer und Frauen, so wie die Helden in den Filmen
im Fernsehen, die sich immer in die Heldinnen verknallten und kurz danach
nackt und keuchend im Bett lagen und sich gegenseitig ins Kinn bissen.
Von zwei Jungs und auf Füssen Sitzen war nie die Rede gewesen. Ich
war wahrscheinlich nicht normal. Es war mir alles zu früh passiert,
daran musste es liegen. Daniel konnte gar nichts dabei fühlen, er
war noch nicht so weit.
Ich fühlte mich wie ein Dreckschwein.
Trotzdem hörte ich nicht auf, an Daniel zu denken, während ich
an mir rumspielte. Solange ich nur daran dachte und immer noch in Mädchen
verknallt war, konnte es ja niemandem schaden.
Schon bald durfte ich auch mal bei Daniel übernachten. Und natürlich
nahm ich nur meinen Schlafanzug und meine Zahnbürste mit. Und dann
packte meine Mutter noch frische Unterwäsche dazu und am liebsten
hätte sie noch mehr eingepackt. Daniels Mutter hatte eine Verabredung
für den Abend, wir würden also ein paar Stunden allein sein.
Und wir machten das, was Elfjährige in so einer Situation am liebsten
tun: Ungestört Fernsehen. Im Schlafanzug und mit unseren Bettdecken
wollten wir vor den Fernseher ziehen. Daniel behielt einfach seine Unterwäsche
unter dem Schlafanzug an, so dass er sich nicht vor mir ausziehen musste.
Ich überlegte kurz, ob ich es anders machen sollte, weil ich eigentlich
nie die Unterwäsche dabei anbehielt. Aber dann machte ich es doch
genau wie Daniel.
Wir lümmelten uns mitsamt den Bettdecken aufs Sofa im Wohnzimmer
und schalteten die Glotze ein. Was da eigentlich lief, war uns egal, wir
machten uns sowieso über alles lustig, also konnte das Programm gar
nicht schlecht genug sein. Am liebsten drehten wir bei der Werbung den
Ton ab und "synchronisierten" die Spots selbst:
"Und hier sehen Sie Bettlaken, die wir weiß angemalt haben,
damit sie sauber aussehen." (Waschmittelwerbung) - "Unsere blöden
Pillen nützen zwar nichts, Sie bekommen danach aber Ihren Mund nicht
mehr zu, weil Ihr Gebiss quietscht." (Gebissreiniger) - "Fragen
Sie mich nicht, was ich hier soll. Ich grinse in jede Kamera." -
"Widerlich klebriges Zeug - und jetzt kommt das Beste: Es ist auch
noch sauteuer!" (Süßigkeiten)
Wir lagen längst jenseits von Sofa und Bettdecken auf dem Fußboden
und kringelten uns. Daniel konnte dieses "Synchronisieren" besonders
gut, er erfand aus dem Stegreif die komischsten Sachen, wandelte die Werbeslogans
mit ein, zwei Wörtern so ab, dass sie wunderbar blöd klangen.
Aber irgendwann hatten wir genug gealbert und wir verkrochen uns aufs
Sofa und sahen uns den Anfang eines Krimis an und spekulierten laut darüber,
wer der Mörder war. Der Krimi war ziemlich langweilig und irgendwann
gaben wir auf und trugen unsere Bettdecken zurück in Daniels Zimmer,
denn bald konnte seine Mutter zurückkommen.
Wir spielten noch ein bißchen mit seinem Spielzeug, ließen
kleine Autos auf der Kante seines Bettes herumfahren, machten eine Verfolgungsjagd.
Mir rollte das Modellauto unters Bett und als ich es hervorholen wollte,
bekam ich was anderes zu fassen und zog es ans Licht. Es war ein großer
Haufen Watte.
"Wie kommt denn die Watte unter dein Bett?" fragte ich naserümpfend.
Daniel wurde ziemlich rot und nahm mir die Watte aus der Hand. "Pssst",
machte er, "die habe ich abgezweigt. Meine Mutter soll das nicht
wissen."
Ich kapierte gar nichts. "Wozu brauchst du denn so einen Haufen Watte?"
Daniel war fürchterlich nervös und versteckte die Watte in einer
Schublade. "Die brauche ich für nachts. Weißt du, da kann
schon mal was auslaufen - habe ich gelesen." Dieses 'habe ich gelesen'
klang wie eine Verlegenheitslüge.
"Häh?" machte ich nur.
Daniel sah mich mit knallroten Wangen an und wusste wohl nicht, wieviel
ich wohl wüsste von Sachen die "nachts auslaufen" konnten.
Nervös sagte er: "Ich mach's halt mit der Watte weg, damit meine
Mutter es nicht sieht."
Ich saß nur da auf dem Fußboden neben seinem Bett und war
verwirrt. Zunächst dachte ich an Bettnässen, aber dagegen war
Watte auch kein gutes Mittel. Erst später, als Daniels Mutter heimgekommen
war und wir das Licht ausmachen mussten, kam mir der Gedanke, Daniel könnte
mit der Watte dasselbe machen, was ich mit meinen alten Unterhemden machte.
Aber ich konnte mir das nicht richtig vorstellen, Daniel kam mir so unreif
vor, er konnte gar nicht so weit sein wie ich.
Trotz aller Verwirrung steigerte dies noch meine Neugier. Am nächsten
Morgen wurde ich ein bißchen forsch: Ich wechselte vor Daniels Augen
die Unterwäsche! Es war ein günstiger Augenblick, er hatte nichts
zu tun und lag einfach nur in seinem Bett, er musste mir entweder zusehen
oder wegschauen.
Daniel sah mir schweigend zu.
Es war ein erstaunlich gutes Gefühl, von ihm betrachtet zu werden.
Ich ließ mir Zeit, legte die schmutzige Unterwäsche ordentlich
zusammen, holte die frische umständlich aus meiner Tasche und breitete
sie zuerst aus, bevor ich sie anzog.
Aber Daniel war unfair, er zog sich im Badezimmer um.
Wie gesagt, in diesem Alter lagen wir immer voll daneben. Aber das wusste
ich damals noch nicht, ich glaubte, der einzige zu sein, der aber wirklich
total daneben war.
Wenn ich mal erwachsen wirken wollte, machte ich mich nur lächerlich.
Vor allem gegenüber Mädchen wollte ich erwachsen wirken, und
ich sagte manchmal einen angeberischen Mist, für den ich mich heute
noch schämen könnte.
Und wenn ich mal ganz ungeniert das Kind sein wollte, als das ich mich
immer noch fühlte, machte ich mich auch lächerlich. So etwa,
wenn Daniel und ich im Bus saßen und zum Zeitvertreib ein selbst
erfundenes Spiel spielten, und die anderen Leute im Bus nur den Kopf schüttelten
und sagten: "Man könnte meinen, ihr gehört in den Kindergarten."
Dann fühlte ich mich plötzlich mies und bemerkte gar nicht,
dass das auch für Daniel galt.
So, und nun dachte ich immer wieder an meinen Freund Daniel und spielte
an mir rum. Ich war vollkommen verdorben. Abartig. Und bis zu dem Ding
mit der Watte hatte ich nicht zu glauben gewagt, dass irgendeiner in meinem
Alter genauso daneben sein könnte. Aber seitdem war ich am Grübeln.
Ich suchte in meiner Erinnerung nach Indizien dafür, dass Daniel
auch so verdorben war. Ich beobachtete ihn und suchte nach Anzeichen.
Chris und Daniel waren katholisch, ich protestantisch. Die Katholiken
nahmen in ihrem Religionsunterricht wohl etwas über Sexualität,
Selbstbefriedigung und Moral durch, jedenfalls konnte Chris nicht aufhören,
davon zu erzählen und dabei schweinigelig zu lachen. Besonders vom
Thema Selbstbefriedigung erzählte er gern, während Daniel nur
rot wurde und die Klappe hielt.
"Da war die Rede von einem Jungen, der sitzt in der Schule und kann
sich nicht konzentrieren und dann reibt er sich an der Hose. Damit er
wieder einen klaren Kopf bekommt. Kannst du dir das vorstellen, mitten
im Unterricht so da zu sitzen," Chris machte es vor, "weil du
dich nicht konzentrieren kannst? Wie wohl die Mädchen das machen?
Nehmen die dann einen Bleistift?" Chris hing an meinem Ärmel,
krumm vor Lachen.
Daniel verzog nur den Mund, musste aber auch ein bißchen Lachen.
"Du bist unmöglich!"
Plötzlich fragte uns Chris: "Habt ihr das schon mal gemacht?"
Und schaute uns mit einem strahlenden Gesicht an.
Ich wurde furchtbar rot und stellte mich dumm: "Wie, 'gemacht'?"
"Na, Selbstbefriedigung!" Er rieb noch einmal an seinem Hosenstall.
"Bis was rauskommt."
Ich hoffte, Daniel würde zuerst etwas sagen, aber Chris schaute nur
mich an und dann log ich: "Neeeiiiinnn. Noch nie gehabt."
Chris fragte Daniel: "Und du?"
Daniel
schüttelte unsicher den Kopf. "Nein."
Chris schaute skeptisch. Er schien uns das nicht zu glauben, hörte
aber immerhin auf, von Selbstbefriedigung zu reden und darüber seine
Witze zu machen.
Mir entging nicht, dass Daniel auch nein gesagt hatte, obwohl ich es besser
zu wissen glaubte. Wir hatten beide gelogen.
Daniel und ich waren unterwegs mit dem Rad, unheimliche Orte suchen.
Im Wald am Stadtrand gab es ein paar solcher unheimlichen Orte, zum Beispiel
ein verlassenes Gebäude, dessen ehemaliger Zweck uns ein Rätsel
war. Aber auch in unserem Vorort gab es unheimliche Orte, zum Beispiel
ein verwildertes Grundstück, das von einer recht hohen Mauer umgeben
war. Auf dem Grundstück war nichts als Gebüsch und Unkraut,
trotzdem versuchten wir herauszufinden, warum so eine große Mauer
darum stand. Es musste ein Geheimnis geben.
Also kletterten wir über die Mauer, was gar nicht einfach war. Ich
war nur mäßig sportlich, und Daniel turnte wie eine Bleiente.
Ich versuchte es zuerst, sprang an der Mauer hoch und bekam die Krone
zu fassen. So hing ich dann da. "Und jetzt?"
Daniel half mir. Und zwar packte er einfach meinen Hintern und drückte
mich hoch. So schaffte ich es tatsächlich, bis auf die Mauerkrone
zu kommen. Daniels Hände an meinem Hintern hatten mir einen richtigen
Schreck versetzt. Ich lag oben auf der Mauerkrone und konnte keinen klaren
Gedanken fassen.
Daniel benutzte sein Fahrrad als Leiter, was ihm aber nicht allzu viel
half. Als er wie ein Affe an der Mauer hing, angelte ich mir sein Knie
und zog es hinauf. So erreichte auch Daniels dickerer Hintern die Mauerkrone.
Wir ließen uns auf die andere Seite fallen und schauten uns um.
So etwas wie Trampelpfade durchzog das Gestrüpp auf dem Grundstück,
und wir rannten wahllos ein paar dieser Pfade entlang. Es war ganz interessant
da herumzustromern, obwohl wir außer einigem Müll nichts fanden.
Aber wir taten etwas Verbotenes, und das ist immer aufregend.
Für den Rückweg über die Mauer konnten wir auf einen Baum
klettern, was wenigstens ein bißchen leichter ging. Trotzdem waren
wieder die hilfsbereiten Hände von Daniel zur Stelle und natürlich
wieder an meinem Hintern. Das war doch Absicht!
'Erwischt, Daniel', dachte ich mir. Endlich ein verräterisches Zeichen!
Er nutzte die Gelegenheit, meinen Hintern zu begrabschen.
Es fing an zu regnen. Sogar ziemlich heftig.
Bis nach Hause war es nicht mehr weit, aber wir hatten irgendwie noch
keine Lust, nach Hause zu fahren. Wir hielten an einem Spielplatz an und
krochen in das Kletterhäuschen. Dieses Häuschen war wohl für
Kleinkinder gedacht, es war so niedrig, dass wir entweder hocken oder
sitzen mussten. Also setzten wir uns auf den Boden.
Der Regen trommelte auf das Dach des kleinen Häuschens. Unsere Haare
waren strähnig feucht, und unsere T-Shirts waren klamm. Wir schauten
uns eine Weile nur in die Augen.
Ich wollte mal etwas Nettes sagen: "Eigentlich bist du ja gar nicht
dick."
Daniel sprach immer in einem leicht wehleidigen Tonfall, wenn es um seine
Schwächen ging. "Wer ist denn dicker als ich in unserer Klasse?"
maulte er.
"Thomas Neumann ist genauso wie du. Aber nicht dick."
"Aber der sieht besser aus."
Ich war überrascht. Ich hatte mir ehrlich noch nie Gedanken darüber
gemacht, wer von den Jungs gut aussieht und wer nicht. Ich fand auch nicht,
dass Daniel schlechter aussah als andere. Für die Mädchen allerdings
war er Luft. "Findest du?"
"Du etwa nicht?"
Ich hob die Schultern. "Ich weiß nicht, welche Jungs in unserer
Klasse sehen denn deiner Meinung nach gut aus?"
Auch Daniel hob die Schultern. "Andreas. Aber der ist schon nicht
mehr da." Es hatte mal einen Schüler namens Andreas in unserer
Klasse gegeben, für den angeblich alle Mädchen schwärmten.
Ein braungebrannter Junge mit hellbraunem Haar, fast wie die Pilzköpfe
der frühen Beatles geschnitten. Irgendwie waren sich alle einig gewesen,
dass er der Schönling der Klasse war.
"Komisch, ich weiß gar nicht, warum die den so schön fanden."
Daniel seufzte. "Ach Markus! Natürlich, DU brauchst dir ja keine
Gedanken zu machen. DU bist ja dünn und siehst gut aus. DICH mögen
die Mädchen ja."
Mir pochte das Blut im Kopf. Meine Wangen liefen heiß an. Noch nie
hatte mir jemand gesagt, ich sähe gut aus. Nicht einmal meine Mutter,
für die war ich ein "Süßer", eben süß
und knuddelig wie ein Kind. Das war etwas vollkommen anderes.
Daniel sagte: "Ich wäre auch lieber dünner, wenigstens
so wie du."
Ich versuchte abzuschwächen: "Ich bin auch nicht gerade toll
im Sport."
"Aber du kannst gut zeichnen. Und gut schreiben. Merkst du denn nicht,
wie immer alle scharf darauf sind, zu sehen, was du machst? Du kriegst
jedesmal die Aufmerksamkeit."
Ich wusste nichts mehr zu sagen. Ich hatte die ganze Aufmerksamkeit, die
ich bekam, schon für selbstverständlich gehalten. Es musste
hart sein für einen wie Daniel, neben mir zu sitzen. Es musste hart
sein für ihn, mich als Freund zu haben. Ich schämte mich fast.
"Ich kann dir was beibringen!"
Daniel schaute schon beinahe verächtlich. "Nein danke. Vergiß
lieber alles, was ich gesagt hab."
Ich war ratlos. Sollte ich ihm sagen, dass ich fand, er sah auch gut aus?
Ich hatte mich so an sein Gesicht gewöhnt, dass ich gar nicht sagen
konnte, ob es schön oder doof war. Und eigentlich war mir auch seine
Pummeligkeit völlig egal. Er war mein Freund, weil er ähnliche
Interessen hatte, weil die Zeit mit ihm zusammen schnell verging, weil
wir uns Geschichten erzählen konnten, weil wir tolle Spiele erfanden
und weil er geduldig und sanftmütig war. Aber das konnte ich ihm
nicht sagen, weil ich es selber nicht recht wusste. Ich war noch nicht
mal 12.
Ich werde niemals vergessen, wie es war, als wir in diesem kleinen Spielplatzhaus
saßen, während der Regen auf das Dach klopfte, und Daniel mir
sagte, was er von mir dachte. Die merkwürdige Stimmung, in der wir
waren. Dieses Gefühl im Bauch.
Daniel
findet, ich sehe gut aus.
Als ich das nächste Mal allein zu Hause war, wollte ich das ausführlich
überprüfen. Ich machte eine Ein-Mann-Modenschau vor dem Garderobenspiegel.
Ich bearbeitete vorher mein Haar mit einem Föhn und einer Bürste,
so dass es seidig und voll um meinen Kopf schwebte. Ich probierte verschiedene
Hosen und Hemden, mal mit Gürtel, mal ohne, und betrachtete mich
im Spiegel, nahm lässige Posen ein, drehte mich um, schaute auf meinen
eigenen Hintern. Am besten gefiel ich mir mit offenem Hemd, ohne Unterhemd
darunter. Und das, obwohl ich doch so gerne klar gezeichnete Brustmuskulatur
gehabt hätte, richtige Linien auf meinem Oberkörper, aber in
Wirklichkeit keine einzige Linie darauf zu sehen war. Doch an diesem Tag
mochte ich mich, so wie ich war.
Ja, ich sah gut aus. Wenn ich einen Doppelgänger gehabt hätte,
hätte ich ihn küssen wollen.
Es wurde Sommer, oder das, was man in unserer Gegend Sommer nennt. Und
Daniel und ich fuhren zusammen in Ferien! Eigentlich war es nur zufällig
so, dass Daniel und seine Mutter ganz in der Nähe von meinen Großeltern
Urlaub machen wollten. Sie nahmen mich mit und setzten mich bei Oma und
Opa ab. Aber unsere Eltern hatten ausgemacht, dass Daniel auch für
ein paar Tage zu meinen Großeltern kommen sollte. Und das konnte
ich kaum erwarten.
Vor der Fahrt betrieb Daniels Mutter einen unheimlichen Aufwand, damit
Daniel im Auto nicht schlecht wurde. Er musste ein paar Pillen schlucken,
sich im Beifahrersitz weit zurücklehnen, bekam ein Kopfkissen untergelegt
und sollte möglichst die ganze Fahrt über schlafen. Aber wir
redeten die ganze Zeit miteinander - hauptsächlich über die
Bandkassetten mit unserer Hitparadenmusik, die wir im Autoradio abspielten
- und da wurde Daniel auch so nicht schlecht.
Die Fahrt war schnell vorbei. Meine Großeltern waren überrascht,
mich so früh zu sehen. Ich schrieb noch für Daniel die Telefonnummer
meiner Großeltern auf einen Zettel, dann waren er und seine Mutter
auch schon wieder verschwunden.
Ferien bei meinen Großeltern waren nichts besonderes, aber okay.
Es waren dort Nachbarskinder, die ich schon seit Ewigkeiten kannte. Wir
gingen Schwimmen oder spielten Tischtennis oder die Jungs hatten irgendein
neues Lieblingsspiel, das dann in endlosen kleinen Turnieren ausgefochten
werden musste. In diesem Sommer musste ich mich allerdings mit den jüngeren
Kindern begnügen, die anderen Jungs waren nun 14 Jahre alt und damit
plötzlich groß und spielten nicht mehr mit mir.
Mir war also keineswegs langweilig, trotzdem konnte ich es kaum erwarten,
dass das Telefon klingelte und Daniel dran wäre. Nach fast einer
Woche klingelte es dann endlich. Daniel sagte nicht viel am Telefon, besonders
spannend waren seine Ferien bislang nicht gewesen. Wir machten also kurz
aus, dass ihn seine Mutter am nächsten Tag vorbeibringen würde,
dann legten wir auf.
Es war nicht leicht, meiner Großmutter klarzumachen, dass wir unbedingt
im gleichen Zimmer schlafen mussten. Und dass es unbedingt das stille
Zimmer unterm Dach sein musste. Ich fing beinahe einen Streit an, einigte
mich dann aber mit ihr, das ganze Bettzeug allein die steile Treppe hinaufzutragen
und die Betten zu machen.
Ich verbrachte den halben Nachmittag damit, vor dem Haus auf und ab zu
laufen und nach dem Auto von Daniels Mutter Ausschau zu halten. Es war
ja möglich, dass sie das Haus meiner Großeltern nicht wiederfand
und sich verfuhr. Ich nahm mein Fahrrad und fuhr die Straße rauf
und runter und schaute in die Nebenstraßen. Ich konnte mir kaum
vorstellen, dass sich Daniels Mutter einfach nur Zeit ließ.
Sie kamen dann endlich und hatten sich natürlich nicht im geringsten
verfahren. Daniels Mutter blieb zum Kaffee und redete dabei pausenlos
auf ihren Sohn ein, wie er sich benehmen sollte und was er alles auf keinen
Fall vergessen durfte.
Dann dankte sie meinen Großeltern beinahe endlos und stellte noch
einmal klar, dass sie ihren Sohn sofort abholen würde, sobald er
Ärger bereiten sollte.
Dann stieg sie endlich in ihr Auto und verschwand.
Ich war unsicher, ob das kleine, alte Haus meiner Großeltern Daniel
überhaupt gefallen würde. Ich zeigte ihm einige Zimmer und das
etwas altmodische Klo und machte verlegen einen Witz darüber und
beobachtete Daniels Gesicht. Ihn schien nichts zu stören. Und als
ich ihm unser Dachzimmer zeigte, war er mit mir einer Meinung, dass dies
das beste Zimmer wäre.
Ich lachte erleichtert.
Daniel packte seine Sachen aus. Natürlich hatte er sein Kopfkissen
mitgenommen, ohne das er angeblich nirgendwo schlafen konnte. Und ein
halbes Dutzend Stofftiere.
Wir ließen uns an diesem Abend nicht mehr bei meinen Großeltern
unten blicken. Wir verbrachten Stunden damit, alten Krempel auf dem Dachboden
zu durchsuchen, hauptsächlich Bücher und altes Spielzeug, und
darüber Witze zu machen, so dass wir gar nicht auf die Uhrzeit achteten.
Bis meine Großeltern von unten heraufriefen, sie würden jetzt
schlafen gehen, und wir sollten Ruhe geben. Da fiel mir auf, dass es ziemlich
unhöflich von uns gewesen war, gar nicht mehr herunterzukommen und
wenigstens Gute Nacht zu sagen.
In unserer ersten Nacht unterm Dach schliefen wir nicht viel. Wir redeten
noch miteinander bis weit nach Mitternacht und freuten uns, dass wir Ferien
hatten. Von dieser Nacht will ich eigentlich gar nicht viel erzählen,
auch nicht vom nächsten Tag, an dem Daniel zwei oder drei Spinnen
auf dem Dachboden entdeckte und ausgesprochen panisch reagierte und sich
erst beruhigte, nachdem wir im Dorfsupermarkt Insektenspray gekauft und
die Spinnen ausgerottet hatten. Nein, der folgende späte Abend mit
Daniel war der bemerkenswerteste unserer Ferien und auch einer der bemerkenswertesten
meines Lebens.
Daniel und ich sagten meinen Großeltern recht früh Gute Nacht
und gaben damit zu verstehen, dass wir den Rest des Abends allein im Dachzimmer
verbringen wollten. Wir würden vielleicht noch Karten- oder Würfelspiele
machen und dazu unsere heißgeliebten Hitparaden-Cassetten laufen
lassen. Aber lange beschäftigten wir uns damit nicht, wir fingen
bald an, von dem Mädchen zu schwärmen, in das wir beide verliebt
waren. Sie hieß Betty, sie war blond und hatte Sommersprossen.
Daniel hatte das große Bett unter dem Fenster, darauf saßen
wir beide und malten uns laut Geschichten aus, in denen uns Betty am Ende
küsste.
"Wir sind in einem Ferienlager", sagte Daniel. Ferienlager war
gut. Wir haben zwar beide nie ein Ferienlager mitgemacht, aber wir wussten
natürlich aus Filmen und Büchern, dass man da was erleben konnte,
das zu einem Kuss führen mochte.
"Es gibt eine Gruppe älterer Jungs, die sich ziemlich mies benehmen.
Wir sind natürlich in einer Gruppe mit Betty. Wir machen eine Nachtwanderung...",
erzählte Daniel und grinste in wohliger Vorahnung.
"Jaaa, eine Nachtwanderung! Das ist es!" Ich lehnte mich zurück
und schaute durch das Dachfenster auf den Nachthimmel. Wenn das Licht
aus war, konnte man im Bett liegen und durch dieses Dachfenster über
sich die Sterne sehen. Und vielleicht draußen ein paar Grillen zirpen
hören. Aber meistens bestimmte der entfernte Lärm der Dorfdisco
die nächtliche Geräuschkulisse mit schwach durchdringender Musik,
vereinzeltem Gegröhle junger Männer und Motorradgeknatter.
"Eine Nachtwanderung... in einem Wald. Wir haben ein paar Taschenlampen
dabei", fuhr Daniel fort.
"Huhuh!" Ich kringelte mich wohlig auf dem Kopfende von Daniels
Bett. Das war gruselig und kribbelig, also genau richtig, um ein Mädchen
zu küssen.
"Wir gehen mit den Lampen vorneweg. Wir kommen bald an eine Stelle,
an der der Wald dichter wird und wir uns durchs Gebüsch kämpfen
müssen. Es raschelt und knackst. Als wir endlich an eine Lichtung
kommen, drehen wir uns um und die Mädchen sind...", Daniel hielt
kurz die Luft an, "...weg!"
Ich hielt auch die Luft an, kicherte dann und sponn die Geschichte weiter.
Wir erzählten jeder einen Teil und wussten beide von Anfang an, worauf
es hinauslaufen würde. Natürlich hatte die Gruppe älterer
Jungs die Mädchen unserer Gruppe gefangengenommen - vermutlich um
sie selbst zu küssen - und irgendwie befreiten wir sie und konnten
entkommen und dann... ja, dann konnten die Mädchen nicht mehr anders,
als uns Helden zu küssen! Diesmal durfte Daniel die blonde Betty
küssen, weil er mit der Geschichte angefangen hatte. Mir blieb "nur"
die dunkelhaarige Jenny, Bettys beste Freundin, die genau genommen viel
netter war als Betty, aber das wusste ich damals noch nicht. Jenny war
nur zweite Wahl.
Ich lag quer über dem Kopfende vom Bett und ließ meine Füsse
von der Bettkante baumeln. Daniel saß mit angezogenen Beinen auf
dem Fußende und betrachtete mich.
Ich sagte: "Ich habe schon mal davon geträumt, wie ich mit Betty
allein im Park bin und ich will sie festhalten und da dreht sie sich gerade
um und unsere Lippen berühren sich."
Daniel schaute ein wenig ausdruckslos. "Ja, und?"
Ich zuckte die Schultern. "Das ist alles. Aber es war wie richtiges
Küssen. Und im Traum fühlte es sich an wie echt."
"Nur so'n kurzes Berühren?" Daniel konnte sich das nicht
vorstellen.
"Ja, warte..." Ich setzte mich auf, drehte mich mit dem Rücken
zu Daniel und tat so, als wäre ich Betty in meinem Traum. "Tu
mal so, als wolltest du mich fangen!"
Unentschlossen fasste Daniel meine Oberarme. Ich drehte mich zu Daniel
um und stieß ihn dabei unweigerlich zur Seite. Daniel reagierte
übertrieben "Auuu, auuah!" und lachte.
"Nein, so natürlich nicht! Wir müssen dabei stehen!"
Ich stand vom Bett auf. "Komm, steh auf!"
Daniel folgte mir, anscheinend nun neugierig geworden. Wir nahmen wieder
Aufstellung wie in meinem Traum, und als Daniel mich an den Armen nahm,
drehte ich mich um und wickelte mich dabei fast in seinen Arm und kam
ganz nah und eng an Daniels Brust zum Stehen. Unsere Nasenspitzen berührten
sich fast und wir waren uns so nah, wie zwei, die sich küssen.
Wir
verharrten.
Daniel grinste mit geschlossenen Lippen. Er spürte genau wie ich,
dass wir es einfach mal ausprobieren könnten, genau in diesem Moment.
Niemand sah uns zu. Wir könnten es einfach mal üben.
Ich flüsterte fast tonlos, um Daniel nicht anzupusten: "Unsere
Lippen haben sich nur ganz leicht berührt." Und ich schob mich
langsam an Daniels Nasenspitze vorbei.
Bei der allerersten hauchzarten Berührung - wahrscheinlich nur mit
ein paar winzigen Flaumhärchen von der Oberlippe, denn es kitzelte
ganz merkwürdig - prustete Daniel los. Sein feuchter Atem roch nach
Zahnpasta und Weißbrot.
Daniel ließ mich los und schüttelte sich vor Lachen.
Ich blieb ernst. Ich fühlte mich nämlich ein bißchen enttäuscht,
dass dieser Kussversuch so schnell gescheitert war. "So geht das
natürlich nicht. Betty hat nicht angefangen, zu lachen. Und ich auch
nicht."
Daniel kicherte mit roten Wangen. "Markus, willst du mir jetzt wirklich
zeigen, wie man Betty küsst?" Aber als er sah, dass ich ernst
blieb und anscheinend genau dies wollte, hörte er auf zu kichern.
"Na, ja, DU könntest ja jetzt mal Betty sein und ich zeige dir,
wie ICH Betty küssen würde."
Daniels Wangen wurden noch röter, aber er sagte nicht nein zu meinem
Vorschlag. Er sagte gar nichts.
Ich versuchte, zu erklären: "Natürlich nicht richtig. Nicht
mit nassen Lippen und so. Meine Lippen sind ganz trocken... hier, schau!"
Ich zeigte meine Lippen.
Daniel sagte immer noch nichts. Er war vollkommen durcheinander. Aber
er zeigte auch keinerlei Widerwillen, er ließ es einfach mit sich
geschehen.
"Und ohne zu lachen!" sagte ich noch ermahnend. Und dann setzte
ich Daniel auf sein Bett und bedeutete ihm, sich hinzulegen. "Also,
ich würde mit Betty allein sein bei diesem Ferienlager. Wir würden
im Gras liegen und die Sterne anschauen."
Als Daniel auf seinem Kopfkissen lag und hinauf zum Dachfenster sah, beugte
ich mich zur Nachttischlampe und knipste das Licht aus. Es wurde dunkel
im Dachzimmer. Und still. Daniel rührte sich nicht.
Ich legte mich neben Daniel und schaute hinauf zu den Sternen. Mein Herz
klopfte bis in meinen Hals und meine Ohren, so dass ich glaubte, Daniel
müsste es hören. "Also, du bist jetzt Betty und ich bin
ich."
Daniel blieb still. Kein Widerspruch.
"Dann würde ich meinen Arm um dich legen." Ich schob meinen
Arm unter Daniels Schultern, und Daniel half mir sogar und hob dafür
seinen Kopf an. Dann lagen wir nebeneinander und ich fühlte Daniels
Unterhemd auf meinem Arm und seine warme Schulter in meiner Hand und ich
hörte Daniel atmen.
Und nun, ohne noch mehr von Betty und dem Ferienlager zu erzählen,
drehte ich mich zu Daniel auf die Seite und zog ihn mit meinem Arm um
seine Schulter näher, bis er direkt vor meinem Gesicht lag und sich
unsere Knie berührten. Und dann küsste ich ihn. Seine Lippen
waren gar nicht mehr angespannt und sie waren auch nicht trocken. Wir
schnauften uns unseren Atem gegenseitig über die Wangen. Endlich
fühlte ich es, wie es war, richtig zu küssen! Und Daniel machte
mit. Ich fühlte, wie auch er richtig küssen wollte, und wie
ihm das Gefühl meines Mundes gefiel. Langsam und zärtlich legte
er seinen Arm um meine Schultern, und so lagen wir schließlich eng
umschlungen und uns atemlos küssend im Dunkeln.
Dann wurde das Küssen weniger wild und schließlich lagen wir
nur noch Wange an Wange und streichelten uns leicht über den Rücken.
Ich wäre bestimmt gerne so eingeschlafen, aber wir waren beide viel
zu aufgeregt, auch wenn wir nichts mehr machten und auch nicht redeten.
Aber nach einer ganzen Weile, hörten wir auf uns zu streicheln und
legten uns zurück. Und letzten Endes schlich ich in mein Bett und
wir schliefen irgendwann.
Dieses wilde Küssen in dieser Nacht in unseren gemeinsamen Sommerferien
blieb das einzige Mal, dass wir so etwas gemacht haben. Obwohl ich immer
wieder davon tagträumte und es so gerne noch einmal gemacht hätte.
Aber ich war mir nie sicher, ob es Daniel auch wollte, und ob wir nicht
davon "schwul werden" würden.
Wie schon gesagt, in dem Alter lagen wir immer voll daneben.
Später hatten wir beide Probleme, eine Freundin zu finden. Daniel,
weil er der Partykiller war, der nicht tanzen und nicht flirten konnte
- ein Junge, den Mädchen grundsätzlich übersahen. Und ich,
weil ich zu selbstverliebt war und mir einbildete, alle Mädchen würden
auf mich stehen.
Aber "schwul" sind wir beide wohl nicht geworden. Und da hätten
wir uns noch tausendmal küssen können. Aber ein bißchen
verliebt war ich schon in Daniel, auch wenn ich das damals, mit 12 Jahren,
nicht einmal über meine Leiche zugegeben hätte. Welche Art von
Liebe hat man zu seinem besten Freund in diesem Alter? Ist sie vielleicht
schlechter als die Liebe zu einem Mädchen? Oder ist sie sogar besser,
tiefer - schließlich hält sie oft bis ans Lebensende, die Liebe
zu meinem besten Freund.
Daniels Mutter hat übrigens in genau diesen Ferientagen, in denen
Daniel bei meinen Großeltern war, jenen Mann kennengelernt, der
nach und nach ihr Lebensgefährte werden sollte. Daniel hat ihn nie
akzeptiert, nicht als Ersatzvater und nicht einmal als Freund.

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